GASTSPIEL Bastian Volkamer über seinen Besuch im Haus von Mutter Teresa in Kalkutta

Es ist sehr lange her – über 30 Jahre. Ich habe noch niemals darüber geschrieben. Doch jetzt, anlässlich der Heiligsprechung Mutter Teresas, mache ich es, ihr zu Ehren. Manche Erinnerung mag inzwischen ungenau sein und sich mit anderen vermischen, doch alles ist noch erstaunlich klar. Mein Erlebnisbericht soll im Chor der teilweise auch kritischen Stimmen nicht fehlen. Damals hatte ich die Gelegenheit und große Ehre, für eine Woche am schönsten Ort der Erde zu arbeiten.

„Nicht am Schönsten. Du meinst: den Beeindruckendsten!“ sagten meine Eltern und meine Freunde. Nein, ich meine den schönsten Ort, den es für mich gibt: Nirmal Hriday, the home for the dying in Kolkata. Unvorstellbare Schönheit zwischen Krankheit, Enge, Dreck und Tod.
Nach mehreren Monaten bei zwei Brüdern aus Taize im benachbarten Bangladesh hatte ich bereits einen gewaltigen Kulturschock hinter mir, sonst hätte ich das nicht gekonnt. Ich hatte im Verkehrsstau aus Rickschas gestanden, Slums besucht und Dörfer, die 10 Kilometer von der nächsten Straße entfernt lagen. Ich hatte unvorstellbare hygienische Zustände gesehen, weil die Grundbesitzer sich weigerten, den einen Quadratmeter Boden pro Haus für eine Toilette herauszurücken. Häuser, die teilweise so klein waren, dass die ältesten Söhne nachts draußen schliefen, weil die ganze Familie einfach nicht auf den Boden passte. Nur in der Hauptstadt Dhaka war es noch schlimmer, weil dort in den Randbezirken viele Abwasserkanäle wirklich kleine offene Kanäle waren, um die herum die Hütten standen. Manche Kanäle mündeten in kleine Seen, die natürlich völlig überdüngt und veralgt waren. Das hatte allerdings auch einen Vorteil: man konnte in ihnen viele kleine Fische fangen, die von den Algen lebten. Eine kleinfingerlange Eiweißquelle für Menschen, die sonst ausschließlich Reis, Linsen und Peperoni hatte, wenn sie sie hatten. Ich war zur Trockenzeit da, nicht im Sommer, wenn diese Brühe die Hütten überschwemmt. Ich hatte mich an die Kinderhorden gewöhnt, die in den Straßen jeden Weißen verfolgten, den sie zwar als Fremden verachteten, in dem sie aber ein wandelndes Portemonnaie sahen. Das hatte ich gesehen, und noch viel mehr.
Gegen Ende meiner Zeit rieten mir dann die beiden Brüder, ich solle doch für zwei Wochen nach Kolkata fahren. Bei der Heilsarmee könne man billig wohnen und für ein paar Tage käme ich sicher bei den dortigen Brüdern unter. Ein Zug fahre dorthin. In Kolkata sollte ich zum Kalighat-Tempel fahren. Direkt daneben befinde sich das Haus für die Sterbenden von Mutter Teresa; dort sei man über jeden Freiwilligen froh.

Als ich nach einer ziemlich abenteuerlichen Reise mein Bett bei der Heilsarmee hatte und am Kalighat-Tempel ankam, fand ich daneben ein unscheinbares, sehr einfaches Haus vor. Verschnörkelte Fassade – es war wohl einmal ein Pilgerzentrum des Tempels. Innen zwei große Räume – einer für die Frauen und für mich unzugänglich, einer für die Männer. Dazu ein paar Nebenräume.
Im Saal für die Männer standen dicht bei dicht dutzende einfacher Pritschen mit einem robusten, abwaschbaren Gummibelag. Man konnte so gerade zwischen ihnen herumgehen. An der Decke Ventilatoren. In der Ecke ein Bild vom Barmherzigen Jesus, ein Marienbild und ein Kreuz, typisch indisch und schreiend bunt. Davor ein paar Kerzen. Auf jeder Pritsche lag oder saß ein Mann. Eine der Schwestern hieß mich willkommen. Ich solle mich erst einmal eine halbe Stunde umsehen und eingewöhnen, dann hätte sie Arbeit für mich. Für eine Woche bin ich dort hingegangen und habe diese Arbeit verrichtet.
Essen wurde verteilt, sehr einfach, aber immerhin mit etwas Salat. Für viele Bewohner schlicht luxuriös. Dazu gab es Wasser. Einige Bewohner mussten gefüttert werden. Das konnte dauern, weil sie teilweise nicht mehr richtig schlucken konnten. Man musste im Mund nachschauen, bevor man den nächsten Bissen reichen konnte.
Wer es nicht mehr selbst konnte, musste gewaschen werden. Eine heikle Sache bei Menschen, bei denen Entblößung als Katastrophe gilt. Toilettenpfannen mussten gebracht und entsorgt werden. Eine, die man mir in die Hand drückte, enthielt undefinierbare Schleimfetzen, Blut und ein paar Segmente eines riesigen Bandwurms, daumendick. Ich konnte den Brechreiz nur unterdrücken, weil ich dachte: wenn du jetzt spuckst, nimmst du dem Mann seine letzte Würde. Verbände waren meist um die Reste verstümmelter Finger Leprakranker gewickelt, manchmal auch um die Reste größerer Gliedmaßen. Sie wurden von Personen gewechselt, die sich darauf verstanden. Tote wurden in einen kühlen Raum gebracht.
Mit diesen Arbeiten verging die Woche. Einige der Bewohner konnten ein wenig englisch. Sie klagten selten.
Mindestens eine ausgebildete Krankenschwester legte Infusionen und verabreichte Injektionen. Es gab einen klaren Medikamentenplan, einen guten Vorrat an allem Nötigen und selbstverständlich einen guten Sterilisator. Ein Arzt kam regelmäßig, untersuchte und stellte Diagnosen. Erschein jemand heilbar, so suchten die Schwestern nach einem Krankenhausplatz für ihn. Nicht einfach, da ein Krankenhaus bar bezahlt werden musste und die Patienten das nicht konnten. Ansonsten wurde jedes Leiden so gut bekämpft, wie es möglich war. Etwa 50% der Bewohner des Hauses überlebten damals und verließen es wieder. Die anderen starben innerhalb einiger Stunden, Tage oder Wochen. Niemand von außerhalb besuchte sie oder kümmerte sich um ihren Tod. Denn nur die, so wurde mir gesagt, durften in diesem Haus wohnen, die drei Kriterien erfüllten: offensichtlich kurz vor dem Tod stehend, vollkommen mittellos und ohne Angehörige. Menschen, die also anderenfalls schlicht irgendwo am Straßenrand allein gestorben wären.
Davon gab es noch genug. Jeden Morgen fuhr ein Lastwagen durch die entsprechenden Straßen und sammelte Tote ein. Einmal habe ich ihn gesehen: ein paar Säcke mit Leichnamen auf der Ladefläche, einer davon völlig unförmig und blutdurchweicht. Ich habe versucht, mir nicht auszumalen, was darin war, doch ich dachte an die berüchtigten Ratten von Kalkutta, die nachts angeblich sogar noch lebende Sterbende anfraßen und die am Busbahnhof von den Reichen mit Popcorn gefüttert wurden. Tausende Ratten, die sich auf den Verkehrsinseln satt fraßen.
An der Tür wurde Essen an Bettler ausgegeben. Viele kamen, viele nicht. Was an Essen übrig war, wurde weggeworden. Zusammen mit vereiterten Verbänden und anderem Müll landete es auf einem Haufen hinter dem Haus, der ab und zu abgeholt wurde. Ich war empört! Doch dann erzählte mir jemand, das werde großenteils noch von Armen weggeholt, die von Christen nichts annähmen, vom Müll aber schon.

Im Saal herrschte eine große Ruhe, obwohl es unruhige und auch unangenehme, ungeduldige Bewohner gab. Doch aus irgendeinem Grund fehlte in der Stimmung dort eine Emotion völlig: Traurigkeit. Nicht fröhlich, aber vollkommen friedlich. Es ist der positivste Ort, den ich jemals besucht habe. Das lag sicherlich auch daran, dass viele der Bewohner niemals zuvor ein eigenes Bett, einen Arzt, ein regendichtes Dach oder regelmäßige, gesunde Mahlzeiten gehabt hatten. Sie starben besser, als sie jemals gelebt hatten. Der Hauptgrund aber stand in der Ecke, mit brennenden Kerzen davor. Mutter Teresas Brüder und Schwestern leben kontemplativ. Sie beten ebenso viel, wie sie arbeiten. Auch ihre Arbeit ist Gebet für sie, ihre Haltung zu den Bewohnern Liebe. Die unbeschreibliche Schönheit des Hauses ist die Schönheit Gottes – anders lässt es sich nicht erklären.
Es ist wie ein Schock, in einen Raum zu kommen, in dem die Hälfte der Menschen im Sterben liegt, aber niemand traurig ist, doch jeder liebevoll. Diese Liebe zu bringen ist das erklärte Ziel Mutter Teresas. Und obwohl selbstverständlich jeder versorgt wird, so gut es geht, ist diese Liebe das Wichtigste.
Obwohl sie sich für jeden Freiwilligen eine halbe Stunde Zeit nahm, habe ich Mutter Teresa selbst nie getroffen – sie war gerade im Ausland. Ihr Wirken habe ich gesehen. Es gab keinerlei Missionsgespräche an den Krankenlagern. Hindus starben wie Hindus, Moslems wie Moslems. Manche fragten, warum man ihnen helfe – die bekamen natürlich eine ehrliche Antwort. Doch was zählt und oft so wenig verstanden wird, ist, was Mutter Teresa einmal sagte: „Anfangs habe ich gedacht, die Menschen bekehren zu müssen. Doch dann habe ich begriffen: ich soll sie lieben. Und die Liebe bekehrt, wen sie will.“

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Dieser Artikel wurde 13 mal kommentiert

  1. Wolfgang Antworten

    Also so ganz kann ich das ganze Katholische einerseitz und das Anti-Merkel andererseits nicht verstehen. Also der ernsthafte Katholik, der dankt im Gebet für unsere Bundeskanzlerin.

  2. S v B Antworten

    Die Erfahrung zu machen, dass man selbst unter elendesten Bedingungen und Umständen wahre „Schönheit“ finden kann, ist möglich. Allerdings benenne ich das, dessen man in einer solchen Situation gewahr wird, nicht mit dem Wort Schönheit, sondern eher mit dem Wort WÜRDE. Um eine solche Erfahrung zu machen – die weit über das tatsächliche Erleben hinausgeht – muss man allerdings stark genug und willens sein, den eigenen Schatten zu überspringen. Auch für den Gastautor stellte der Aufenthalt in der so gänzlich anderen und ungewohnten Umgebung eine völlig neue, sehr eindrückliche Erfahrung dar, die ihre Spuren hinterlassen hat. Der Nachhall der Erlebnisse überdauerte bisher immerhin 30 Jahre. Solche innerlich aufrührenden und dabei zutiefst berührenden Begegnungen brennen sich in die sensible Seele ein; sie prägen fürs Leben.

    • S v B Antworten

      PS: Sorry, Wolfgang, aber Ihren Kommentar hätt’s ned braucht, wie man bei uns in Oberbayern sagt. Im Kontext zu den Ausführungen des Gastautors finde ich ihn ziemlich unpassend.

      • Wolfgang Antworten

        Ich weiß nicht, ob es nun „passt“ oder nicht. Aber der Blog heißt „denken erwünscht“. Und der Herr Kelle propagiert – für mich wenig nachvollziebar – einen Abtritt Merkels. Und für ernsthafte Katholiken ist eine solche Handlung einfach nicht vorstellbar. Wäre Frau Merkel keine Protestantin, dann würden die im Vatikan drüber Nachdenken, sie auch Heilig zu sprechen. Das ist das, worüber ich mich wundere.

        Ich bin übrigens kein Katholik und halte von dem „heilig sprechen“ nicht wirklich viel.

        • Klaus Kelle Antworten

          Sehr geehrter Wolfgang,

          Sie wissen sicher, dass ich mehrfach die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland unterstützt habe. Jetzt stelle ich aber fest, dass sich dieses Land deutlich zum Negativen verändert, u. a. auch durch einen Teil der Flüchtlinge. Ich lese jeden Morgen ungefähr 15 Polizeiberichte aus verschiedenen Regionen Deutschland, und es ist unfassbar, was hier Tag für Tag los ist – eben auch stark durch Menschen, die wir hier aufgenommen haben. Und weil ich jedes politische Thema gedanklich davon aufrolle, was ist gut für mein Land, für Deutschland, hat sich meine Haltung zu Frau Merkel, die ich mehrfach gewählt habe, deutlich geändert, denn sie ist die Verantwortliche.

          • Wolfgang

            Sehr geehrter Herr Kelle. Frau Merkel hat mal gesagt „Wir schaffen das“ und für mich hat sie es geschafft. Für meine Begriffe passiert bei der Menge an Flüchtlingen aus diesem total anderen Kulturkreis sehr wenig. Als Sie damals für die Flüchtlinge waren, da habe ich meinen Erste-Hilfe-Kurs wiederholt, einen Kurs in Brandbekämpfung gemacht und nach den Richtlinen des Bundesamtes für Katastrophenschutz meine Lebensmittel aufgestockt. Die von mir erwartete Katastrophe ist bislang jedenfalls ausgeblieben.

            Noch mal: Für mich hat sie es geschafft.

          • Klaus Kelle

            Sehr geehrter Wolfgang,

            dann einigen wir uns darüber, dass wir in dieser Frage nicht einig sind. Ist ja nicht schlimm.

            Beste Grüße, schönen Abend!

        • labrador12 Antworten

          Lieber Wolfgang,

          Sie schreiben anfangs „Also der ernsthafte Katholik, der dankt im Gebet für unsere Bundeskanzlerin.“

          Wie kommen Sie zu diesem Schluss? Wie begründen Sie diese Aussage?

          • Wolfgang

            Habt Ihr eine andere Bibel als wir? – Einfach mal lesen!

            Da gibt es eine Aufforderung für das Wohl der Regierenden zu beten, oder habe ich die Stelle falsch verstanden.

          • labrador12

            Lieber Wolfgang,

            haben Sie wirklich schon in der Bibel gelesen, oder kennen Sie diese nur vom hörensagen?

            zitieren Sie doch bitte den (ganzen) Vers

          • labrador12

            richtig, lieber Wolfgang,

            Sie sind definitiv NICHT meine Konkordanz, ich brauch ja was verwendbares …

            Ich sehe meine Aufgabe jedoch auch nicht darin, Ihnen Ihre Argumente für die von Ihnen aufgestellten Behauptungen aus der Nase zu ziehen.

            Versuchen Sie doch einfach meine Frage als etwas genervte Aufforderung Ihre Anschuldigung mit einem Argument zu belegen, zu verstehen.

  3. Andreas Schneider Antworten

    Die sehr persönliche Erfahrung Herrn Volkamers sollte die Augen öffnen für unser oftmals als selbstverständlich empfundenes Wohlempfinden in einem Leben ohne existenzielle Nöte.

    Tatsächlich aber kann auch ich es mir nicht verkneifen, vor dem Hintergrund des hier Niedergelegten die jammernde Kaste unserer Weltuntergangshysteriker gegenüber zu stellen, die mit Selbstkasteiung, dem Verzicht auf für uns Alltägliches, der Umstellung ihrer (!) Nahrung (möglichst auf vegan) u. a. m. tatsächlich glauben, etwas für die hilfsbedürftigen Menschen in anderen Teilen der Welt bewegen zu können. Freilich ohne selbst aktiv zu werden.

    Herr Volkamer hat hingegen vor Ort zugepackt – das verdient unser aller Respekt. Dass ihm das Erlebte auch nach Jahrzehnten so stark nachgeht, muss jeden Schreibtischtäter (jawohl, auch mich!) demütig stimmen. Ganz gleich, welchem Glauben man sich verpflichtet fühlt.

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