Meine persönlichen Erinnerungen an Helmut Kohl

Helmut Kohl war Zeit seines Politikerlebens das, was man „umstritten“ nennt. Ich hatte das Privileg, diesen Kanzler und Parteivorsitzenden immer wieder persönlich erleben zu dürfen, das erste Mal 1976 auf dem Marktplatz von Detmold in meiner lippischen Heimat. Kohl war drei Jahre zuvor zum Vorsitzenden der Partei Konrad Adenauers gewählt worden und machte Wahlkampf vor dem Rathaus. Eine britische Militärkapelle spielte vorher, ich habe heute noch Schwarz-Weiss-Fotos davon.

Als er am 6. März 1983 von den Deutschen zum Bundeskanzler gewählt wurde, saß ich abends im Wohnzimmer meiner Eltern vor dem Fernseher und weinte. Vor Glück. Eines von zwei politischen Ereignissen überhaupt, bei denen mit Tränen über die Wangen liefen. Das andere war 1991, als sich die Nachrichten um die Welt verbreiteten, dass in Moskau ein Putsch gegen Gorbatschow begonnen habe, und wir erwarteten, dass es nun wieder Krieg geben könnte.

Eine geistig-moralische Wende versprach der Kanzler Kohl und enttäuschte mich und viele andere bitter. Aber wenn es um Europa ging, machte er vieles richtig. Oder sagen wir: Er hatte den richtigen Kompass, wenn auch handwerklich manches schief lief. Die Organisation der deutschen Wiedervereinigung war sein Meisterstück. Als der Mantel der Geschichte wehte, griff er zu. Ohne Absprache mit seinem Koalitionspartner, ohne Konsultationen mit Washington, Paris, London und Moskau diktierte er seiner Hannelore seinen Zehn-Punkte-Plan in die Reiseschreibmaschine. Sein persönliches Drehbuch für den Weg zur Einheit.

Er hat es gut gemacht. Er saß mit Gorbatschov auf einer Mauer am Rhein und sie redeten über die schrecken des großen Krieges. Er fand mit den Vereinigten Staaten und George Bush sen. schnell einen mächtigen Verbündeten für sein Vorhaben, das deutsche Volk wieder in einen Staat zusammenzuführen. Er gewann das ehrliche Vertrauen Mitterrands und drehte schließlich auch die knarzige Maggie Thatcher um. Auch Deutschlands Nachbarn vertrauten diesem Mann aus Oggersheim, der so gar kein Großmannsgehabe ausstrahlte und immer wieder hohe Staatsgäste an den heimischen Esstisch zu pfälzischem Saumagen nötigte.

Unvergessen seine Kundgebungen vor dem Schöneberger Rathaus, wo er von 50.000 Berlinern gnadenlos ausgepfiffen wurde und mit stolz gerecktem Kinn „Einigkeit und Recht und Freiheit“ gegen den Mob ansang. Unvergessen die Nacht, als die Mauer fiel, und ich als Reporter mit einem Mikrofon bis zum Morgengrauen an Grenzkontrollstellen, die längst keine mehr waren, live berichtete. Unvergessen die gewaltigen Kundgebungen im Volkskammerwahlkampf 1990. In Erfurt und Leipzig war ich mitten in der Menge dabei und vergaß meine gebotene Zurückhaltung als Journalist und stimmte enthusiastisch in die „Deutschland, Deutschland“-Sprechchöre mit ein.

Nur ein Politiker, der sich ausruht, macht keine Fehler. Nur einer, der keine Vision hat, eckt nicht an, zieht sich keine Häme zu. Helmut Kohl hatte bei all den Fehlern, die er auch gemacht hat, den richtigen Kompass. Eine Eigenschaft, die man seiner aktuellen Nachfolgerin auch wünschen möchte.

Als Helmut Kohl 1993 zum Antrittsbesuch beim neuen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton in Washington antrat, war ich als Journalist dabei. Ich erlebte einen historisch tief gebildeten und mitreißend witzigen Mann, der ohne Krawatte mit offenem Hemd und Strickjacke auf einem Klappstuhl in der Kanzlermaschine hoch über dem Atlantik das Weltgeschehen erläuterte. In dem kleinen Besprechungsraum des Flugzeugs war es viel zu eng für all die Berichterstatter. Ich gehörte zu denen, die sich mit Kuli und Stenoblock schließlich auf den Teppich zu seinen Füßen setzte. Ich werde diese Reise nie vergessen. Und ich verneige mich vor einem großen Staatsmann.

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Dieser Artikel wurde 12 mal kommentiert

  1. S v B Antworten

    Helmut Kohl hat vieles richtig gemacht, manches aber auch nicht. Als Historiker hat er z. B. die Implikationen einer gemeinsamen Währung, mit denen wir uns heute herumschlagen müssen, völlig verkannt. Auch die Lancierung seines Zöglings Angela (Kohls Mädsche) in die politische Verantwortung erscheint mir im Nachhinein mehr als fragwürdig. Trotzdem hätte mancher ihn gerne noch bis in allerjüngste Zeit um seine Meinung und um seinen Rat gebeten.

    Im übrigen unterschreibe auch ich im Falle Helmut Kohls den Satz de mortuis nihil nisi bene aus voller Überzeugung. Deutschland schuldet seinem verstorbenen Alt-Kanzler Respekt und Dank. Möge er in Frieden ruhen.

    • Peter G. Antworten

      Der Euro war zweifellos der Preis der Franzosen für deren Zustimmung zur Wiedervereinigung. Die „Implikationen“ der Gemeinschaftswährung wurden vorhergesehen und deshalb die No-Bail-Out-Klausel in die Maastrichter Verträge geschrieben. Dass sie leichtfertig – auch von Schröder (3 % Regel) – gebrochen werden würden, war nicht vorher zu sehen.
      Die Bedingungslosigkeit sich über jede Regel hinweg zu setzen und dies schnöde mit „Alternativlosigkeit“ zu begründen kam erst mit Merkel und ist deren Lebensziel, der Entstaatlichung Deutschlands und dessen Aufgehen in einem europäischen Zentralstaat geschuldet.

  2. Klaus Beck Antworten

    Eine subtile und auch sehr ausgewogene Analyse, die allen Facetten des Mannes gerecht wird.

    Im Übrigen: Lieber „umstitten“ als wahnsinnig geworden …

  3. Uwe_aus_DO Antworten

    Helmut Kohl war und ist umstritten, ja. Wann immer im Bekanntenkreis sein Name fiel, oder die Themen „D-Mark“ (für die DDR), Wiedervereinigung oder auch Euro fallen, höre ich die Vorwürfe und Vorurteile: Er hat uns Wessis und uns Deutsche, vor allem unsere Währung und unsere Rente, verraten, verkauft und verschenkt.

    Auch ich habe ihn oft kritisiert. Ich hatte 1976 und 80 keine Flugblätter für die CDU verteilt, damit die Ost- und die Schuldenpolitik der sozialliberalen Koalition kontinuierlich fortgesetzt werden. Auch die Abwicklung der DDR, über die Treuhand, war voller Pleiten, Pech, Pannen und Skandalen.

    Aber dabei habe ich niemals vergessen: Die Wiedervereinigung war, bei allen Problemen und Kosten, ein Geschenk. Was die Einigung Europas für einen Wert hat, entdecken wir erst jetzt wieder, wo sie so oft in Frage gestellt wird. Und auch der Euro ist im Kern eine gute Sache.

    Die meisten Probleme haben uns seine Nachfolger gebracht. Die endgültigen Abkommen über den Euro tragen die Unterschrift des damaligen Finanzministers Oskar Lafontaine. Das „übersehen“ der griechischen Haushalts-Betrügereien passierte unter Rot-Grün. Dass der Soli immer noch nicht abgeschafft ist und das Geld weiter in Gegenden fließt, aus der die Menschen trotz der blühenden Landschaften abwandern, ist von den heute Regierenden zu verantworten.

    Die Verdrossenheit mit Europa hat sicherlich auch damit zu tun, dass allzu viele Entscheidungen als alternativlos bezeichnet und durchgewunken wurden. Oder man hunderttausende Flüchtlkinge ins Land lässt, ohne auch nur irgendwie ihre Identität zuverlässig festzustellen.

    Ob all das auch unter Kohl, Waigel und Co. passiert wäre? Wir werden es nie erfahren, ich glaube aber: nein. Es wird noch einige Zeit vergehen, bis die historische Bedeutung dieses Mannes, für Deutschland und Europa, wirklich in ihrem ganzen Ausmaß erkannt und gewürdigt wird.

  4. treu Antworten

    Man muß kein „Freund“ von Helmut Kohl sein, zumal auch angesichts seiner politischen Fehler die bis heute wirken, aber angesichts dessen, was bzw. wer nach ihm kam, war er ein aufrechter und unerschütterlicher deutscher Patriot und Staatsmann, der für ein ganz anderes Deutschland wie dem heutigen stand und nachdem sich Millionen Menschen zurücksehnen und sich noch im Grabe umdrehen wird, angesichts dessen, was man aus diesem Land gemacht hat!

  5. Ruth Antworten

    Sehr geehrter Herr Kelle,
    sicher sehen Sie die Person Helmut Kohl aus einem anderen Blickwinkel, nicht zuletzt auch wegen den Privilegien, im gleichen Flieger reisen zu können. Solche Erlebnisse und gemeinsame Reisen prägen und bringen automatisch eine andere „Nähe“ zu einer Person.

    Ich habe Herrn Kohl selbstverständlich anders wahr genommen.
    Ich hatte eher den Eindruck, er war wie eine Art „Hans im Glück“. Er war zufällig Kanzler, als es Dank Herrn Gorbatschow und auch Herrn Busch senj. zu dieser Entwicklung und schließlich zur Wiedervereinigung kam. Egal wer in dieser Zeit Bundeskanzler gewesen wäre, egal von welcher Partei, keiner hätte sich dieser Entwicklung widersetzt! Jeder hätte dann natürlich sofort versucht, dass beste daraus zu machen.

    Er mag Hannelore etwas in ihre Reiseschreibmaschine getippt haben – ist das ein Verdienst?

    Und wie ist Herr Kohl mit Hannelore nach 41 Ehejahren umgegangen? Als sie Hilfe brauchte? Warum die zeitgleiche Eskalation der Beziehung zu seinen Söhnen, wo sie doch vorher immer die perfekte Promi-Vorzeigefamilie waren. Der gesunde Menschenverstand sagt einem, hier stimmte etwas nicht.

    Aber wenn man das Privatleben einmal beiseite lässt, völlig inakzeptabel war das Verhalten von Herrn Kohl in der Spendenaffäre. Ein Ehrenmann hätte nie Bargeld angenommen, erst recht nicht in solcher Höhe. Ein Ehrenmann, besonders in dieser Position, hätte dem edlen anonymen Spender nahegelegt, wenn er schon über soviel Barmittel verfügt, und diese aus lauter Dankbarkeit – wofür? – verteilen möchte, sie anderweitig der CDU zukommen lassen kann. Im Umschlag in den Briefkasten werfen oder bar auf das Spendenkonto der CDU einzahlen, es hätte hier Möglichkeiten gegeben, wenn man gewollt hätte. Doch man bevorzugte, mit Barmitteln in dieser Höhe herumzumauscheln.
    Ganz bewußt hat Herr Kohl sich hier über das Gesetz gestellt.
    Dieses Geld anzunehmen und dann noch sein Ehrenwort zu geben, den holden Spender nie zu verraten, war falsch. Er hätte sein Ehrenwort – sein Versprechen, dass er seinem Land seinerzeit gegeben hat, nicht brechen dürfen.
    Und das kann man nur weil er jetzt verstorben ist, im Nachhinein auch nicht verklären oder verharmlosen.

    Nein, Helmut Kohl habe ich in den letzten Jahren nicht vermisst, besonders nicht als er stark von Krankheit gezeichnet war, eine Karikatur seiner selbst, immer wieder mal in die Öffentlichkeit gezerrt wurde bzw. als es um lukrative Gerichtsprozesse ging, die lachenden Erben werden sich freuen!
    Und ich werde ihn auch jetzt nicht vermissen.

    Helmut Schmidt vermisse ich dagegen sehr – obwohl ich nie SPD Anhängerin war.

    • Klaus Kelle Antworten

      Sehr geehrte Ruth,

      Sie haben natürlich mit vielem, was Sie hier schreiben recht. Dennoch möchte ich Ihnen in dem ein oder anderen Punkt widersprechen.

      Über den Umgang Kohls mit seiner Frau Hannelore weiß ich persönlich wahrscheinlich genau so wenig wie Sie, nur all die Spekulationen auss den Medien. Sollte es so gewesen sein, dass er sie in den schwersten Stunden allein gelassen hat, obwohl die ihm Jahrzehnte lang eine treue Weggefährtin war, so ist das unentschuldbar. Erlauben Sie mir aber den Hinweis, dass Familien von Politikern, von Spitzenpolitikern, sehr häufig zerrüttet sein, was an dem Job, der Rund-um-die-Uhr-verfügbarkeit usw liegt.

      Spendenaffäre: Wir müssen uns nicht darüber streiten, dass er gegen Gesetze verstoßen hat. Das darf ein Bürger nicht, dass dard ein Bundeskanzler schonmal gar nicht. Punkt! Dennoch wird allgemein angenommen, Kohl habe sich Geld eingesteckt. In Wahrheit hat er Schwarzgeld eingesammelt, um den Einheits-Wahlkampf 1990 gegen die strukturelle und finanzielle Übermacht der SED-Erben führen zu können. Das entschuldigt nicht, dass er gegen Gesetze verstoßen hat, aber es zeigt auch, wie dieser Mann damals getickt hat.

      Was die Einheit angeht, bin ich wirklich anderer Meinung als Sie und habe wirklich alles in den dramatischen Tagen 1989/1990 selbst hautnah erlebt als politischer Redakteur in Berlin. Ich war dabei, als die Mauer geöffnet wurde, als das Brandenburger Tor geöffnet wurde, am 3. Oktober 1990 stand ich mit Mikro in der Hand vor dem Reichstag und war bei unzähligen Hintergrundgesprächen mit führenden Politikern und mit DDR-Deutschen dabei. Und ja, es war ein Verdienst, dass er ohne es mit irgendwem abzustimmen den Zehn-Punkte-Plan entwickelt und öffentlih vorgestellt hat. Denn das war der Schritt, der den Richtungswechsel zur Einheit eingeleitet hat, als viele Politiker in Deutschland noch den Schwachsinn von „es geht um Wiedersehen und nicht um Wiedervereinigung“ verbreiteten…

  6. Tina Hansen Antworten

    Ich möchte mich – bei aller Achtung vor den politischen Leistungen Helmut Kohls – Ruth anschließen. Eine unter einer schweren Lichtallergie leidende, in einem dunklen Haus vor sich hinsiechende Frau nach 40 Ehejahren allein zu lassen, ist menschlich nicht akzeptabel. Hannelore Kohl hat sich in tiefster Einsamkeit und Verzweiflung das Leben genommen. Zu den beiden gemeinsamen Söhnen hatte Helmut Kohl seit Jahren keinen Kontakt mehr, und das lesenswerte Buch Walter Kohls über seine Kindheit, Jugend und das Verhältnis zu seinem Vater wirft auch kein gutes Licht auf den Kanzler der Einheit.
    Es tut mir leid, dies so schreiben zu müssen.

    • S v B Antworten

      Ich bin überzeugt, dass es auf dem der Weg zum Gipfel der Macht – auf politischer oder wirtschaftlicher Ebene – gänzlich anderer Eigenschaften bedarf als die eines liebevollen Ehemannes und fürsorglichen Familienvaters. Dass Kohl die Erwartungen seiner Familie nicht erfüllen konnte und letztere somit herb enttäuschen musste, war vorhersehbar. Als Kohls zweite Frau später zugriff, waren die ganz besonderen Eigenschaften, die einen mächtigen Mann auszeichnen, längst schon der Altersmilde gewichen. Welche der beiden Kohl-Ehefrauen es letztlich „besser“ mit ihm hatte, übersteigt meine Urteilskraft.

  7. Martin Antworten

    Ein Satz von Kohl war doch „Entscheidend ist was dabei hinten rauskommt.“
    Und was kam bei Kohl „hinten raus“?
    Gut er hat die Einheit geschafft. Aber ich denke, die wäre so oder so gekommen. Die DDR war absolut zahlungsunfähig. Nach dem Untergang des Ostblocks hätte die als selbstständiger Staat nicht überleben können. Selbst ein Kanzler Lafontaine hätte die aufnehmen müssen.
    Er hat den Euro eingeführt. Wie wir heute wissen, eine absolute Katastrophe.
    Und sonst hat er ein psychologisches Wohlfühlgefühl („geistig moralische Wende“) erzeugt, das aber NUR heiße Luft war.
    Die Linken wären sicherlich viel schlimmer gewesen. Aber reicht das aus? Merkel hat sich doch vieles bei ihm abgeschaut. Z.B. dieses Einlullen des Wählers mit leeren Parolen.

  8. Frank Steinsiek Antworten

    Helmut Kohl war zufällig Kanzler, als der Osten zusammenbrach. Aktiv hat er gar nichts dafür. Gerade die CDU Politik hat, trotz jahrzehntelanger Wiedervereinigungs-Rhetorik- keine Ideen / Grundlagen für einen deutschen Statt vorbereitet. Pläne für Tag X ?
    Das Kohl das noch nicht einmal abschätzen konnte ( 1:1, Blühende Landschaften etc.) zeugt von fehlendem Sachverstand.
    Nur seiner Machtcleverness zu verdanken, hat es es geschickt verkauft.

    Sorry, aber Helmut Kohl ist ein völlig überschätzter Politiker.

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