Es ist immer eine Frage des Einzelfalls

Das Magazin „stern“ berichtete vor einigen Jahren über eine ältere Dame, die beim Runtertragen eines Müllbeutels auf der Treppe gestürzt und so unglücklich aufgeschlagen war, dass sie fortan vom Hals abwärts gelähmt blieb. Ihr Verstand funktionierte noch, den Kopf konnte sie bewegen – sonst nichts mehr. Danach wollte sie einfach nur noch sterben. Sie sagte, es gebe nichts mehr, was ihr Freude bereitet, nicht einmal die Besuche der Enkel. Jeder Tag, jede Minute ihres Lebens sei eine Qual. Sie flehte geradezu um Erlösung. Mich hat dieser Artikel – was beim „stern“ wirklich äußerst selten geschieht – tief bewegt. Es war einer dieser Momente, die heutzutage bei vielen, die immer alles ganz genau wissen, unmodern geworden sind. Eine menschliche Geschichte, die einen zum Überlegen zwingt, ob man vielleicht in einer wichtigen politischen Frage auf dem Holzweg ist.

Menschliches Leben sollte unantastbar sein – das ist zeitlebens meine Überzeugung gewesen. Da ich zudem auch noch von der Existenz Gottes überzeugt bin und die Lehre von Würde und uneingeschränktem Lebensrecht eines jeden Menschen wunderbar, ja geradezu revolutionär finde, bin ich Gegner von Euthanasie, Abtreibung, Angriffskriegen und Todesstrafe. Und dennoch sind es immer Einzelbeispiele, sind es menschliche Dramen und kaum vorstellbare Schicksalsschläge, die uns daran erinnern, dass es auch beim Lebensrecht nicht nur Schwarz und Weiß gibt. So lange man nicht selbst betroffen ist, lässt sich gut schwätzen. Da wird die reine Lehre vertreten, da wird alles abgebügelt, was der eigenen Meinung widerspricht. Aber wie sieht es aus, wenn man plötzlich selbst in eine Katastrophe hinein gerät?

Jeder Mensch darf in einer freien Gesellschaft selbst entscheiden, wie er oder sie leben möchte. Das bestreitet niemand, der halbwegs bei Verstand ist. Doch wie ist es mit dem Sterben? Selten wurde der Begriff „Selbstbestimmung“ derart inflationär gebraucht, wie gestern in Medien und sozialen Netzwerken und natürlich im Bundestag, wo unsere Abgeordneten übrigens mit Ernsthaftigkeit und Würde ein ethisch überaus heikles Thema diskutierten. Aber es reicht eben nicht, nur laut „Selbstbestimmung“ zu rufen. Ich bin erstaunt, wie viele Leute sogar sagen, die Politik soll sich aus dem Thema Sterbehilfe komplett raushalten und die Leute machen lassen, was sie wollen. Das wird dem Thema nicht gerecht. Natürlich, wenn jemand beschließt, vom Hochhaus-Dach zu springen, um dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, wird ihm herzlich egal sein, was der Gesetzgeber dazu meint. Doch was ist mit denen, die sterben wollen, es aber nicht allein bewerkstelligen können? Wer soll, wer darf ihnen helfen? Wollen wir eine Kommerzialisierung der Sterbeassistenz? Tötungsangebote in den Gelben Seiten des Telefonbuches? Oder wollen wir das ausschließen? Wollen wir wirklich die Ärzte von ihrem Eid, unbedingt Leben zu retten, entbinden und sie zu Dienstleistern für Leben und Sterben erklären? Was verändert das im Verhältnis zwischen Patienten und Ärzten im Alltag?

Was ist mit den Schwerstkranken, die nicht mehr selbst artikulieren können, was ihr Wille ist und auch keine Patientenverfügung haben? Wer entscheidet für diese armen Menschen? Ein Gericht, wohlmöglich nach Aktenlage? Eine Ärztekommission? Oder vielleicht der Familienrat der potentiell Erbberechtigten? Und wie sieht es mit neugeborenen Schwerstbehinderten aus? In einigen unserer westlichen Nachbarländer wird ernsthaft darüber diskutiert, ob man die nach der Geburt auch noch straffrei töten dürfen soll. In der DDR, über die wir in diesen Tagen ja viel gehört haben, war das übrigens häufig geübte Praxis. All diese und weitere Fragen müssen beantwortet werden, will man das Abgleiten in eine durch und durch inhumane Gesellschaft verhindern. Ich meine, wo endet das alles? Darf irgendwann jeder einen anderen Menschen ins Jenseits befördern, wenn der nur vorher sagt, er möchte das gern? Oder – wir leben in Deutschland – einen amtlichen Vordruck dazu ausgefüllt hat?

Ich bin immer noch gegen die Freigabe der Sterbeassistenz und für strafrechtliche Sanktionen, wenn sich Ärzte an einer solchen Handlung beteiligen. Zu groß sind aus meiner Sicht die Missbrauchs-Risiken. Und den Wert einer Gesellschaft sieht man in erster Linie daran, wie sie mit ihren Schwachen und Hilflosen umgeht. Wenn ungeplante Schwangerschaften, pflegebedürftige Familienangehörige und alte Menschen nur noch als Belastung und als Hindernis zur eigenen Selbstverwirklichung angesehen werden, läuft etwas gehörig schief im Land. Aber, und da schließt sich der Kreis, ich bin bisher nicht betroffen. Wer weiß, wie ich es sehen würde, wenn ich beim Müllruntertragen auf der Treppe stürzte und fortan vom Hals abwärts gelähmt wäre.




Der Qualitätsjournalismus lebt

Wer ist verantwortlich für den Abschuss von Flug MH 17 im Juli 2014 über der Ukraine? Vielleicht werden wir es nie erfahren. Vielleicht gibt es zu viele interessierte Parteien an dem Konflikt, die kein neues Öl ins Feuer gießen wollen. Doch ist jetzt die Zeit, die vielgescholtene „Mainstreampresse“ in Deutschland einmal zu loben. „Die Zeit“ hat heute eine brillant geschriebene Analyse veröffentlicht, die auf akribischer Recherche beruht. Immer noch zurückhaltend in der Bewertung, ohne Propagandageschrei, aber in der Konsequenz zwingend. Und deshalb möchte ich Ihnen, meinen Lesern, diesen Text zur Lektüre empfehlen. http://www.zeit.de/2014/47/malaysia-airlines-mh17-absturz-ukraine-neue-beweise




Von der Separierung im Chlorwasser

In Berliner Bezirk Schöneberg haben sich SPD und Grüne etwas Neues ausgedacht, um die Welt ein klein wenig lebenswerter zu machen. Allmonatlich soll es im Stadtbad Schöneberg spezielle Zeiten geben, zu denen ausschließlich Trans- und Intersexuelle dort baden dürfen. Durch solch einen geschützten Raum seien sie vor Diskriminierung durch „misstrauische Blicke und abfällige Bemerkungen“ bewahrt, heißt es. Das mag sein, und ich gönne diskriminierten Menschen jeden Schutz, den sie brauchen, auch wenn ich nicht sicher bin, ob das Kassenpersonal im Hallenbad wirklich geeignet ist, zu erkennen, wer trans- oder intersexuell ist. Aber warum überhaupt nur in diesen beiden Fällen? In einem Schwimmbad werden auch behinderte Menschen bisweilen mit abfälligen Bemerkungen traktiert. Oder alte, weiße Männer wie ich, mit ein paar Kilos zu viel auf den Hüften. Und in manchen Städten gibt es bereits heute spezielle Badetage nur für muslimische Frauen. Und was ist mit jüdischen Mitbürgern, die besonders in jüngster Zeit wieder von einem islamistischen Mob beleidigt und bedroht werden? Wann dürfen die ins Stadtbad Schöneberg, ohne Angst vor Belästigung und Diskriminierung haben zu müssen? Oder Pfarrer und Ordensleute? Wollen die von anderen wohlmöglich nicht erkannt und beim Schwimmen angesprochen werden? Was ich sagen will: Wo fängt das an, wo hört das auf? Wäre es nicht sinnvoller, von den Badegästen offensiv Toleranz und anständiges Benehmen einzufordern, statt Separierung im Chlorwasser zu betreiben?




Gregor Gysi auf der Flucht

Die „Welt“ berichtet heute von einem grotesken Schauspiel auf den Fluren des Bundestages. Der kanadische Publizist David Sheen und der US-Publizist Max Blumenthal, beides bekannte Israelfeinde, sollten auf Einladung der einschlägig bekannten Linke-Abgeordneten Inge Höger und Annette Groth einen Vortrag über die „Kriegsverbrechen Israels“ in Räumlichkeiten der Linke-Fraktion halten. Und das ausgerechnet einen Tag nach dem Gedenken an die „Reichsprogromnacht“, in der einst die Nazis zu gewaltsamen Übergriffen gegen die deutschen Juden übergegangen waren. Linke-Fraktionschef Gysi untersagte die Veranstaltung, die daraufhin anderswo stattfand. So weit, so gut oder auch schlecht. Doch die beiden „Referenten“ wollten das nicht auf sich sitzen lassen und hätten versucht, Gysi „zur Rede zu stellen“. Sie hätten den Politiker durch die Flure gejagt, bis dieser sich in eine Toilette retten konnte. Nun ist mal wieder die Stimmung schlecht bei den SED-Fortführern, denn immer wieder war es zum Leidwesen der Partei- und Fraktionsführung in der Vergangenheit zu antisemitischen Vorkommnissen bei der Linke gekommen. Man könnte über den Vorgang einfach den Kopf schütteln, aber in diesen Tagen muss zumindest ich immer wieder daran denken, was das eigentlich für eine Partei ist, die nun in Thüringen den neuen Ministerpräsidenten stellen soll.




Wer sagt da sowas Richtiges?

Ein kleines Rätsel für zwischendurch. Vom wem stammen die folgenden Sätze? „Wir dürfen die massiven Integrationsprobleme in Deutschland nicht länger ignorieren. Parallelgesellschaften, die sich abschotten, religiöse Intoleranz vermitteln und selbstverständliche Freiheitsrechte wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau infrage stellen, dürfen nicht länger als kulturelle Diversität verharmlost werden.“

Egal, was Sie antworten wollten: Falsch! Diese Sätze stammen von FDP-Politikern. Der enge Lindner-Vertraute Dr. Gerhard Papke, Vizepräsident des Landtags von NRW, und der frühere Bundestagsabgeordnete Bijan Djir-Sarai haben sie geschrieben. Die FDP, so ist zu hören, befinde sich derzeit auf dem Weg zu einer Art programmatischer Neugründung. Und das erfrischend klare Positionspapier, das eine „Rückbesinnung auf die wehrhafte Demokratie“ fordert, die Bereitschaft Deutschlands, auch international mehr militärische Verantwortung zu übernehmen (bei gleichzeitiger besserer Ausstattung und Vorbereitung der Bundeswehr) und das klar sagt: „Politische und religiöse Extremisten sind in Deutschland nicht willkommen“ ist bemerkenswert. Die Liberalen wollen sich in zentralen Fragen wieder Gehör verschaffen. Mag sein, dass dieses Neudenken auch der Existenz der AfD geschuldet ist. Sicher auch, dass ein solches Papier nur ein erster Mosaikstein einer neuen inhaltlichen Aufstellung sein kann, dem viele weitere folgen müssen. Aber ich finde es gut, dass vom Krankenlager der deutschen Liberalen wieder Atemzüge zu vernehmen sind.




Es gibt Schlimmeres als einen Bahnstreik

Geschäftlich führte mich mein Weg heute nach Stuttgart. Der Bahnstreik ist vorbei, so entschied ich mich für das Reisen auf Gleisen. Und der vorherige Erwerb einer Bahncard 25 sollte die Kosten in einem erträglichen Rahmen halten. Punkt 9 Uhr wartete ich also im sogenannten Fahrgastcenter des Krefelder Hauptbahnhofs, als 13. in der Schlange vor dem einzigen geöffneten Schalter. Dort stand ein Fahrgast mit einem Katalog. Er wollte offenbar eine umfangreiche Reise buchen, war sich aber wohl noch nicht sicher, wohin und woher und in welchen Hotels er wohnen sollte. Die Uhr zeigte mittlerweile 9.17, mein Regionalzug nach Düsseldorf sollte um 9.43 Uhr fahren. Ich war jedoch weiterhin 13. in der Schlange, neben mir harrte meine Frau aus, wohl weil sie mich wirklich liebt. Da öffnete sich im Hintergrund eine Tür und heraus trat eine weitere Bahn-Bedienstete, die Platz an einem der anderen verwaisten Schalter nahm. Allerdings hatte sie zunächst Probleme, ihren Computer hochzufahren. Schließlich funktionierte es. Sie stand auf, ging gemessenen Schrittes zu einem Wandschrank, um Kopierpapier zu holen, als Bewegung in die Szenerie kam. Ein Briefträger erschien mit einem Päckchen, zog an uns allen vorbei und eilte zu Schalter 2. Aus dem Hintergrund rief Bahnfrau 2 laut zur Tür: „Ingrid, kannste mal eben kommen.“ Ingrid kam, nahm das Päckchen entgegen und verschwand wieder.
Die Uhr zeigte 9.23. Der zweite Schalter wurde geöffnet. Am Schalter 1 weiter der Urlauber. Ich rückte in der Schlange vor auf Platz 12. Sekunden später sogar auf 11, denn die ältere Dame, die eine halbe Stunde vorn in der Schlange gewartet hatte, wollte nur schnell etwas fragen. Zehn Sekunden, und sie war fertig. Um 9.28 Uhr geschah etwas Unerwartetes. Die Tür im Hintergrund öffnete sich erneut, und heraus trat die oben bereits erwähnte Ingrid. Dieses Mal, um einen dritten Schalter zu öffnen. Was soll ich sagen, nun ging es voran. Um 9.35 Uhr war ich an der Reihe. Eine Bahncard und einen Fahrschein nach Stuttgart. Und bitte schnell, ich muss den 43 nach Düsseldorf erreichen. Ingrid strahlte überlegen: „Das sind ja noch neun Minuten.“ Und tatsächlich, um 9.40 Uhr hatte ich alles zusammen. Letzte Frage an Ingrid: Von welchem Gleis fährt der 43? Noch ein zauberhaftes Lächeln: „Von Gleis 3.“ Ein schneller Abschiedskuss noch für meine Gemahlin, dann rannte ich los.
Oben auf der Treppe stellte ich fest, dass es Gleis 3 gar nicht mehr gab. Bauarbeiten, alles aufgerissen, Sandberge und Absperrungen. Wegen der Bauarbeiten, so fand ich später heraus, gab es einen Sonderfahrplan. Um 9.43 Uhr fährt derzeit gar kein Zug nach Düsseldorf. Der nächste wäre zu spät, um noch den ICE von Düsseldorf nach Stuttgart zu erreichen. Also meine Frau angerufen, gebeten, mit dem PKW zurückzukommen, und mich nach Düsseldorf zu fahren. Unterwegs haben wir kaum gesprochen. Einmal sagte sie: „Ich bin heute wirklich froh, dass wir in Deutschland so restriktive Waffengesetze haben…“ Keine Ahnung, was sie damit sagen wollte.
Um 10.19 Uhr erreichten wir den Vordereingang des Düsseldorfer Hauptbahnhofs. Ich musste zu Gleis 15, das ist beim Hinterausgang. Mit einem Zwischenspurt erreichte ich um 10.22 Uhr den ICE, gerade als per Lautsprecher verkündet wurde, dass jetzt „die Türen automatisch schließen“. Aber ich war drin. Es gab zunächst keinen Sitzpolatz im ganzen Zug, später rutschte durch das Ruckeln mein Kaffee vom Tisch und tränkte mein rechtes Hosenbein mit der braunen Brühe. Ich finde, die GDL sollte ihren Streik wieder aufnehmen. Dann kommt unsereins gar nicht mehr in Versuchung, sich diesem Irrsinn auszusetzen.




Was für eine Heuchelei

Im Bundestag wurde heute der Maueröffnung vor 25 Jahren gedacht. Wolf Biermann sang, Vertreter der Parteien redeten. Auch Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen, die eigentlich Bündnis 90/Die Grünen heißen. Emotional schilderte sie eine Begegnung mit einem 16-jährigen politischen Häftling des SED-Regimes, dessen Hände gezittert hätten, und der sagte, dass er doch gar nichts getan habe, lediglich einen Witz gemacht. Über die Mauer. Diese Begegnung, so die grüne Spitzenfrau, habe sie nie wieder losgelassen. Ja, traurig, liebe Frau Göring-Eckardt. Aber wenn Sie doch so bewegt von dieser Erfahrung sind, warum lassen Sie dann zu, dass Ihre Partei in Thüringen die Partei in die Regierung wählen will, die schuldig am Schicksal dieses Jungen gewesen ist? SED hieß die, dann auch mal PDS und heute Linke, aber es ist derselbe Schoß, aus dem die neuen Machthaber in Thüringen stammen. An Feiertagen Krokodilstränen weinen, aber im Alltag die Schuldigen von einst reinwaschen – das ist Heuchelei, Frau Abgeordnete.




Schon jetzt sind Gewerkschaften und Bahn Verlierer

Klar, ich bin auch empört. Empört darüber, dass eine vergleichsweise kleine Gewerkschaft das halbe Land lahmlegt. Was nützen schöne Werbesprüche wie „Die Bahn fährt immer“, wenn sie genau das nicht macht? Für die Zuliefererindustrie sind diese Tage das nackte Grauen. Offenbar hat die Bahn wenigstens für die ganz großen Kunden wie Autohersteller und chemische Industrie einen Notfallplan. Und die Individualreisenden hatten zumindest zwei Tage Vorlauf, um sich Alternativen zu organisieren. Der Streik der Lokomotivführer bleibt ein Ärgernis, aber das ganz große Chaos dürfte ausbleiben.

In das Gefühl der Empörung mischen sich aber zunehmend andere, gegensätzliche Gedanken. Natürlich haben Gewerkschaften in Deutschland das Recht, ihre Forderungen auf dem Weg eines Arbeitskampfes durchzusetzen. Und so ganz ist der Eindruck nicht vom Tisch zu wischen, dass auch die Bahn AG und die größere Bahngewerkschaft EVG an der augenblicklichen Situation nicht unschuldig sind. Denn beim GDL-Streik geht es nur nachrangig um mehr Geld für die Beschäftigten. Was wir alle erleben, ist ein Kampf um Einfluss und Macht. Warum eigentlich ist die Bahn nicht bereit, der GDL und ihrem unbequemen Boss Claus Weselsky zu ermöglichen, die in ihr organisierten Bordbegleiter und Speisewagen-Servicekräfte selbst gegenüber dem Unternehmen zu vertreten? Oder anders gefragt: Ist es eine solche Frage wert, Deutschland tagelang in Atem zu halten und – geschätzte – Schäden von 50 bis 60 Millionen Euro durch den aktuellen Streik in Kauf zu nehmen? Was ist dran am GDL-Vorwurf, die zum mächtigen DGB gehörende Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) mit ihren 200.000 Mitgliedern sei der Bahn lieber, weil handzahm?

Glaubt man der EVG, wäre sie zu einer Kooperation mit der GDL auf Augenhöhe bereit. Allerdings erwartet man, dass die streikfreudige Kleingewerkschaft vorher Zahlen nennt, wie viele Beschäftigte sie überhaupt vertritt – und das lehnt Weselsky konsequent ab. Als außenstehendem Beobachter scheint für mich hier das Problem zu liegen. Der GDL-Chef stellt Maximalforderungen und zeigt null Kompromissbereitschaft. Darauf ist unsere Konsensgesellschaft nicht eingestellt. Und so wird es keine Lösung geben können.

Ein Leser meines Blogs schrieb mir gestern Morgen: „Insbesondere rückt Herr Weselsky in dieser Diskussion in den Fokus, und er wird nicht nur als Vorsitzender der GDL, sondern auch privat an den Pranger gestellt. Das ist eine verheerende Entwicklung und es zeigt wieder einmal auf eine sehr bedrückende und erschreckende Art und Weise, wie man in unserem Lande mit Menschen umgeht, die über ein Rückgrat verfügen.“ Das ist die andere Seite. Die Nennung von Telefonnummer und Wohnort des Streik-Anführers in großen Medien überschreitet deutlich eine Grenze, auch das gehört zur Wahrheit, die man nennen muss.

Was folgt nun aus all dem? Die drei beteiligten Parteien müssen dringend an einen Tisch. Die GDL hat ihre Muskeln spielen lassen, jetzt kommt die Zeit für eine Lösung. Ich sehe nicht, dass die nicht zu finden wäre, wenn beide Gewerkschaften aufeinander zugehen, und die Bahn ernsthaft für eine Lösung offen ist. Denn ihnen muss klar sein, dass sie alle verlieren, wenn das aktuelle Theater noch wochenlang so weitergeht. Schon jetzt ist das Verständnis in der Bevölkerung für diesen Streik bei Null. Er schadet den Gewerkschaften, und er bedroht auf Sicht ihren rechtlichen Freiraum in der Gesellschaft. Und dass die Kunden, die jetzt ihre Güter kurzfristig auf LKWs umladen müssen und die Individualreisenden, die jetzt in großer Zahl auf Fernbusse umsteigen, einfach so wieder zurückkehren, wenn die Streiks beendet sind, ist kaum anzunehmen.




Sendeschluss für die Golden Girls

Nachdem jeder sehen kann, dass die Emanz_Innen-Postille „Emma“ als gedruckte Zeitschrift den Anschluss an die Neuzeit lange verloren hat, versuchte das einst legendäre Blatt von Alice Schwarzer jetzt mal etwas total Hippes in die Sozialen Netzwerken. Bei Twitter wurde aufgerufen, unter dem Hashtag #EMMAistfürmich zu schreiben, welche Bedeutung das Blatt eben so für die Menschen hat. Und die schrieben – allerdings wohl anders, als man sich das bei den Initiator_*Innen vorgestellt hatte. „eine vertane Chance“, „dass man es in den 70ern sicher gut gebrauchen konnte“, „kriminell“, „Teil des gesellschaftsübergreifenden Rechtsrucks“, „super nervig“, „Meinungsvehikel einer paternalistischen konservativ-bürgerlichen Steuerhinterzieherin“ sowie „altbacken, rückschrittlich, bevormundend, elitär, rassistisch und selbstbeweihräuchernd“, um nur wahllos ein paar Antworten zu zitieren. „Emma“ bekommt Prügel von Männern und Frauen, von Feministinnen ebenso wie von Männerbewegten. Man kann darüber philosophieren, ob Schwarzer und dieser Teil ihres Lebenswerks das verdient haben. Unübersehbar ist jedoch: Der 70er-Jahre-Feminismus hat ausgedient. Niemand will ihn, niemand braucht ihn. Zeit für die Golden Girls, in den wohlverdienten Ruhestand zu wechseln.




Die Nachricht heißt: 100.000 Familien freuen sich über Unterstützung

Sie wissen, ich mag die Rheinische Post. Ich lese sie seit langem, und ich lese sie gern. Der heutige Beitrag „Kita schlägt Betreuungsgeld“ hat mich allerdings sehr geärgert, stellt er doch die Realitäten auf den Kopf bzw. zieht Schlussfolgerungen, die nicht der Faktenlage entsprechen. Gegen massiven Widerstand von SPD und Grünen wurde von der schwarz-gelben Bundesregierung 2013 das Betreuungsgeld eingeführt, um damit die Mehrheit der Familien im Land, die für ihre ein- und zweijährigen Kinder keine staatliche Verwahrung wünschen, zu unterstützen. Während die neue Sozialleistung in den südlichen Bundesländern, vorbildlich wieder einmal Bayern, offensiv angeboten wird, machen die rot-grünen Länder nur mürrisch bis lustlos mit. Ich kenne Geschichten aus unserem Freundeskreis, wo junge Familien eine wahre Odyssee hinter sich bringen mussten, um überhaupt zu erfahren, wo und wie man das Betreuungsgeld beantragen kann. Doch der Autor des RP-Artikels erwähnt diese Hindernisse nicht, sondern schreibt, dass es in NRW bislang „nur 97.375 Anträge“ gegeben habe. Nur! Fast 100.000 Familien in NRW erhalten zusätzliches Geld. Das ist also ein Misserfolg? Und der Autor schreibt weiter: „Damit scheint sich die Kita als Betreuungsmodell für unter Dreijährige durchzusetzen.“ Kennt er den Unterschied zwischen Kita und Krippe also gar nicht? Kleinkinder, Babys kommen in die Krippe, nicht in die Kita. Und natürlich gibt es auch in Nordrhein-Westfalen deutlich mehr Eltern, die in den beiden ersten Lebensjahren ihre Kinder selbst erziehen, als Eltern, die ihre Kinder schon nach wenigen Monaten in den Krippe geben – oft übrigens, weil sie es aus beruflichen Gründen müssen, nicht weil sie es wollen. Auch darüber schreibt der Autor nichts. Und über die Kritik an ungünstigen Gruppengrößen in Krippen, überforderten Erzieherinnen und vor allem völlig unflexiblen Betreuungszeiten schon mal gar nicht. Aber „Kita schlägt Betreuungsgeld“. Das ist Journalismus, wie er nicht sein sollte.