BUCHKRITIK: Alexander Kissler seziert die Phrasen unserer Zeit
„Die letzten Tage von Pompeji“ heißt ein Roman des englischen Schriftstellers Edward Bulwer-Lytton, den Sie nicht kennen müssen. Also, den Roman. Eine schwülstige Liebesgeschichte, erschienen im Jahr 1834. Es geht darin um eine Liebe voller Wirrungen (wo gibt es denn auch eine Liebe ohne Wirrungen?), um Nebenbuhler und einen magischen Liebestrank, eine nicht stattfindende Hinrichtung und einen Vulkanausbruch. Muss man wirklich nicht lesen. Doch Bulwer-Lytton, der auch Politiker erst der Liberalen und dann später der Konservativen wurde (was auf eine gewisse geistige Reifung hindeutet), wurde unsterblich durch einen Satz in diesem Werk, der da heißt „Die Feder ist mächtiger als das Schwert“.
Ist sie das wirklich?
Wer Alexander Solschenizyns monumentales Werk „Der Archipel Gulag“ gelesen hat, eine erschütterne Beschreibung des unmenschlichen Systems der sowjetischen Straflager mit Millionen Gefangenen, deren einziges Vergehen das freie Denken und der Widerspruch zur herrschenden kommunistischen Klasse war, wird keinen Zweifel an der moralischen Kraft von Worten haben. Und solche bewegen letztlich die Welt. Solschenizyn selbst formulierte das 1974, als ihm der Nobelpreis verliehen wurde. Er sagte damals: „Ein Wort der Wahrheit überwindet die ganze Welt.“
Wird eigentlich Solschenizyn in deutschen Schulen gelehrt? Oder sind die Lehrpläne im Land der bunten Vielfalt für unser Kinder zu voll mit sexueller Vielfalt und Klima-Demos? Auch mal ein Thema…
Worte können die Welt verändern. Davon bin ich überzeugt. Zum Guten ebenso wie zum Schlechten, was eine durchaus fatale Erkenntnis ist. Wer in einer Debatte die richtigen Worte setzt, kann durchaus den Verlauf derselben bestimmen.
Menschen meiner Profession nennen das neudeutsch „wording“, und mein Freund Thomas Paulwitz, der seit Jahren einen an Don Quichote erinnernden Kampf um den Erhalt der deutschen Sprache führt, wird mich jetzt – hoffentlich nur einen kleinen Moment – hassen, weil ich wieder einmal ins Denglisch abgerutscht bin.
Alexander Kissler, das möchte ich Ihnen heute eigentlich erzählen, hat ein wunderbares Buch geschrieben. „Widerworte“ heißt es, und mit Widerworten kennt sich der brillante Schreiber und Kulturchef des Magazins „Cicero“ aus. Ich lese alles, was ich von Alexander in die Hände und vor die Augen bekomme, und es ist immer ein Genuss, seine Kunst des Denkens und Formulierens zu inhallieren. So etwa, als er Papst Franziskus, immerhin geistlicher Anführer von weltweit 1,2 Milliarden Katholiken, als einen „korpulenten Charmeur“ beschrieb, der immer mehr als „machtbewusster, geschwätziger und am Katholischen relativ desinteressierter Relativierer“ erscheine und „sich schwertut mit einem Bekenntnis zur Heilsnotwendigkeit Christi“. Was für ein Satz, oder?
In seinem neuen Buch seziert Kissler mit spitzer Feder die politisch korrekten Phrasen unserer Zeit und fordert, damit Schluss zu machen. Oder wie es im Klappentext seines Buches beschrieben wird: „…die Mechanik hinter der Rhetorik und den Sinn jenseits des Unsinns“. So zerlegt der Autor genüsslich den Begriff des „humanitären Imperativs“ angesichts der Flüchtlingskrise, die richtig in Schwung kam, als Bundeskanzlerin Angela Merkel im September 2015 den Weg für eine ungeregelte Masseneinwanderung nach Deutschland frei machte. Merkel sagte später in einer Talkshow im Fernsehen: „Das war eine Lage, die unsere europäischen Werte wie selten zuvor auf den Prüfstand gestellt hat. Ich sage, dies war nicht mehr und nicht weniger als ein humanitärer Imperativ.“ Und Kissler merkt süffisant an: „Woraufhin Peter Altmaier energisch klatschte.“
Medienkonsumenten nehmen es jeden Tag einfach so hin, wenn etwa ihre Kanzlerin Merkel nach der Widerwahl am 21. März 2018 in der ersten Regierungserklärung sagt: „Deutschland, das sind wir alle.“ Sind wir das? Wer ist „wir“ und wer sind „alle“? Alexander Kissler seziert:
„Nur weil Menschen sich im selben Raum befinden, (…) entwickeln sie kein Gruppen-Wir. Ohne Geschichte und ohne Identität bleibt das Bunte nur eine unverbundene Mehrzahl. Und wo das Bunte von einer spätmodernen Selbstverständlichkeit zur Staatsideologie umgebogen wird, thriumphiert das Einfarbige. Die Einfältigen freut’s.“
Alexander Kisslers „Widerworte“ sind nicht nur wunderbar geschrieben, in erster Linie sind sie ein Streifzug durch öffentlichen Diskurs und mediale Inszenierung, der unseren Blick auf das deutlich schärft, was uns Tag für Tag vorgesetzt wird.