Danke den schlechtbezahlten Helden unserer Zeit!
Anfang Dezember ist meine Mutter gestürzt, anlasslos, einfach wackelig auf den Beinen, wie man in unserer lippischen Heimat sagt. Meine Mutter ist stolze 93 Jahre, wollte nie Mitglied eines Konzernvorstands werden, war nie Emma-Abonnentin. Eine einfache Frau vom Lande, immer fleißig, immer treu. Jeden Mittag stand warmes Essen auf dem Tisch, deutsche Hausmannskost, keine Fettuccine mit Gambas in Champagnersauce, sondern Rinderroulade mit Kartoffeln, Rotkohl und Soße. Waltraud war und ist bis heute eine wunderbare Mutter, auch wenn ihr Körper nicht mehr mitmacht. Ihr kleiner Klaus war immer das Wichtigste, auch als er ein großer Klaus wurde. Und egal, welchen Unfug ich anstellte, sie was immer auf der richtigen Seite – nämlich auf meiner.
Und nun lag sie da auf dem Küchenboden, Blut sickerte aus einer Platzwunde an ihrem Hinterkopf. Aufrecht setzen, Blutung stillen – tut es weh? Ist Dir schwindelig? Nach einer Viertelstunde schien alles wieder in Ordnung, Cappuccino und Kekse, dann schmökern in einigen dieser furchtbaren Billigblätter, die Frauen wie sie zu Millionen am Wochenende lesen. Über Harry und die Queen, Mette Marit, Helene und Florian…
Aber es ist nichts mehr in Ordnung. Inzwischen ist sie ein Plegefall mit Stufe 3. Sie kann nicht mehr gehen, schon lange kaum noch hören. Ohne Hilfe geht nichts mehr – Toilettengang, Haare waschen, Treppe hochgehen…sie sitzt seit zwei Wochen im Rollstuhl. Ihr größte Sorge ist, dass ich für sie rechtzeitig Weihnachtsgeschenke für ihre Enkel besorge und schön einpacke. Ich habe fast alles zusammen…
Warum erzähle ich Ihnen das alles? Nichts Besonderes, werden Sie denken. Millionen Menschen werden zum Pflegefall, und die erwachsenen Kinder sind jetzt gefragt. Sie müssen das Leben für Pflegefall, Angehörige und sich selbst neu justieren, Anträge ausfüllen, Rat in einer Sozialstation einholen, Pflegedienste kennenlernen und auswählen, zwei Mal in der Woche mit irgendwelchen Ärzten telefonieren. Meine Mutter will nicht in ein Pflegeheim. Sie will die Zeit, die ihr noch bleibt, im Kreise ihrer Familie verbringen. Sie will ganz langsam in den eigenen vier Wänden von allen Abschied nehmen. Sie will hier sterben.
Ich schreibe das auf, um Ihnen zu erzählen, wie gut unser Land in diesem Bereich auch heute noch funktioniert. Ja, es gibt einen Mangel an Pflegekräften. Der verantwortliche Minister versucht, neue Wege zu gehen, um diesen Mangel zu beheben. Aber ich selbst habe in diesen Wochen nur hilfsbereite und freundliche Menschen erlebt – am Telefon, auf Station im Krankenhaus, bei der Krankenkasse. Warteschleifen, die nur 30 Sekunden dudeln, dann ist jemand dran, der unbürokratisch helfen will und kann. Der oder die jede Frage beantworten kann oder „ich stelle mal durch zum zuständigen Sachbearbeiter“ sagt und das dann tatsächlich macht.
Die Männer und Frauen, die in der Pflege arbeiten, die jeden Tag Nächstenliebe praktizieren, schlecht bezahlt werden aber Kranken und Alten ein Stück Menschenwürde bewahren, immer ein freundliches Wort parat haben und gern auch nochmal und nochmal und nochmal ins Zimmer eilen, wenn ein Pflegefall, ein Mensch, den roten Knopf drückt, sie sind die wahren Helden unserer Zeit.