Der große Unterschied: In der Ukraine kann man auch im Krieg gefahrlos gegen die eigene Regierung demonstrieren

Jetzt kommen sie wieder aus ihren Löchern, all die Internet-Helden, die jede Gelegenheit nutzen, um den frei gewählten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu schmähen. Irgendwann verfangen die lächerlichen Geschichten von seinem geheimen Milliardenvermögen, seinem angeblichen Spielcasino auf Zypern und den vom deutschen Steuerzahler bezahlten Seidenstrümpfen für seine Frau aus London nur noch bei den ganz Doofen oder Böswilligen. Aber jetzt ist wieder richtig was los in Kiew – also abseits der nächtlichen russischen Raketen- und Drohnenangriffe.

In der ukrainischen Hauptstadt wird nämlich seit vorgestern lautstark gegen Präsident Selenskyj auf den Straßen protestiert – und das hat er sich verdient.

Selenskyj unterschrieb nämlich am Dienstagabend ein Gesetz, das die Unabhängigkeit der beiden wichtigsten Antikorruptionsbehörden im Land stark beschneidet. Durch das Gesetz werden das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (Sapo) ab sofort dem Generalstaatsanwalt unterstellt. Und der wird direkt vom ukrainischen Präsidenten ernannt.

So werde nahezu ausgeschlossen, dass diese wichtigen Behörden zukünftig noch unabhängig ermitteln können zum Beispiel gegen Freunde und Weggefährten Selenskys, fürchten viele Ukrainer.

Schwer einzuschätzen, ob das tatsächlich so wird, aber ja, natürlich besteht die Gefahr, dass Transparenz und Korruptionsbekämpfung in der Ukraine nicht mehr intensiv betrieben werden. Selenskyj begründet sein Vorgehen, das bei der EU in Brüssel in Bezug auf die Beitrittsambitionen seines Landes gar nicht gut ankommt, mit dem nach wie vor bestehenden russischen Einfluss auf ukrainische Behörden. Am Dienstag sagte er: „Die Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung wird funktionieren, aber nur ohne russischen Einfluss – dieser muss beseitigt werden.“

Als am Dienstagabend die ersten Agenturmeldungen über die Proteste in Kiew hier eintrafen, war die Rede von einigen Hunderten Demonstranten. Das haben wir so berichtet. Heute wissen wir, dass es offenbar viele Tausende Menschen waren, die in Kiew, Lwiw, Odessa und Dnipro auf die Straßen gingen.

Und weil wir – wie alle anderen – zunächst von Hunderten nur in Kiew berichteten, hatten die Verschwörungsexperten in den asozialen Netzwerken mächtig zu tun, schließlich bin ich ja nur eine NATO-Marionette und müsse sowas schreiben, und bei BILD war ich auch ein paar Jahre, ich böser, böser „Systemling“. Ach hatten die Kremlstricher Spaß vorgestern.

Sei`s drum, ich halte das neue Gesetz in Bezug auf die Antikorruptionsbehörden auch zum jetzigen Zeitpunkt für keine gute Idee.

Aber ich nehme zur Kenntnis, dass das Gesetz im ukrainischen Parlament debattiert und dann beschlossen wurde. Man nennt das Demokratie, so wie man es Demokratie nennt, wenn sogar in einem barbarischen Krieg Tausende Bürger ungehindert auf die Straße gehen können, um für ihr politisches Anliegen zu demonstrieren und gegen die eigene Regierung zu protestieren.

Genau das zeigt den Unterschied zu Russland, genau deshalb ist es wichtig, dass wir, die Europäer, die Amis, der ganze Westen die Ukraine weiter nach Kräften unterstützt. Sogar viel mehr als bisher. Diese mutigen Menschen dort wollen zum Westen gehören und frei sein, und sie wollen sich nicht Putins Joch unterwerfen.

Aber die Hetzer im Netz werden Sie nie durch Fakten überzeugen können. Denen ist das Schicksal der Ukraine egal, die nächtlichen Bombardements, all das Töten, Foltern und Vergewaltigen – sie wollen, dass Russland es dem bösen Westen mal so richtig zeigt. Aber es sind die Ukrainer, die uns gerade eindrucksvoll zeigen, dass sie es ernstnehmen mit ihrem Weg in den Westen.

Die Ukraine-Verächter fluten indes weiter das Netz mit alten Kamellen von Selenskyj, der angeblich gar nicht mehr im Amt sei, weil die Wahlperiode abgelaufen ist. Tatsächlich sieht die Verfassung der Ukraine aber vor, dass im Falle eines Krieges oder von Naturkatastrophen Wahlen für die Dauer der Krise ausgesetzt werden können. Nur das macht die Ukraine. Wenn Russland den Krieg morgen aufgibt, dann kann gewählt werden. Vorher nicht….