GASTSPIEL: Alexander Wallasch über die Kultur der Entdemokratisierung
In meiner Kindheit waren Samstag auf dem Marktplatz immer die DKPler unterwegs. Ihr Tapeziertisch war vollgepackt mit engbedruckten Flyern, roten Aufklebern und dicken blauen Büchern: Marx’ Manifest in mehreren Bänden zum Schnäppchenpreis. Die Tapeziertischler waren hager, langhaarig und schlecht rasiert, aber dabei sanft wie die Lämmchen. Deshalb trauten wir uns auch näher heran. Und wir warteten darauf, dass die Rentner bei Tchibo ihren Frischgebrühten ausgetrunken hatten. Denn dann dauerte es nie lange, bis dem ersten Rentner der Kragen platzte: „Dann geht doch rüber!“, schnauften die alten Wehrmachtssoldaten für die alles, was sich links gab, automatisch den Stallgeruch der sibirischen Kriegsgefangenenlager hatte.
Diese plärrenden Cordhutträger waren aber keineswegs unverbesserliche Rechte. Man wählte CDU. Stramm zwar, aber doch CDU. Immerhin hatte jedes Helmut-Kohl-Wahlplakat irgendwas mit „Deutschland“ in der Headline. 1976 hieß es „Kanzler für Deutschland“, ’83 „Aufwärts mit Deutschland“ bzw. „Ein neuer Anfang für unser Land“, ’87 „Entscheidung für Deutschland“,’89 kurz vor der Wende „Im deutschen Interesse: Ja zu Europa.“ Und ’90 dann wieder alles von vorne: „Kanzler für Deutschland“.
Sie erkennen den Anachronismus? Er besteht im Wort „Deutschland“. Wahlplakate klingen heute so: „Wir haben die Kraft“, „Sie haben es in der Hand“, „Wer alles gibt, muss mehr bekommen“, „Nur mit uns“ oder „Es geht ums Ganze“. Ordnen Sie die jetzt bitte mal den Parteien zu. Kleiner Tipp: „ums Ganze“ beispielsweise geht es den Grünen.
Dieses Wischiwaschi könnte man belächeln, wäre es nicht symptomatisch für eine neue Kultur der Entdemokratisierung. Wir sind zu einem Land voller Wächter geworden. Und denen ist heute schon ein Bekenntnis zu Deutschland verdächtig. Ihr Marktplatz ist Facebook und Co. Dort agieren sie wie einst die Cordhutträger gegenüber den DKPlern. Man gibt sich aufgeklärt und weiß um den einen großen Konsens, den es gefahrlos gegen alle Widrigkeiten zu verteidigen gilt. Dabei ist Demokratie nach wie vor ausreichend von der Verfassung eingezäunt.
Demokratie als große Scheibe: An den äußeren Rändern eine feste Reling. Dort stand man zwar hart im Wind, aber man konnte sich bis an die Kante vorwagen und von dort aus ausloten, wie man Gesellschaft in Zukunft verändern könnte. Platz für schöne Utopien ebenso wie für großen Schwachsinn.
Entscheidend war die Mitte, die sorgte dafür, dass die Scheibe im Lot blieb. Sie schlingerte zwar immer mal wieder, wenn es an den Rändern zu einer allzugroßen Unwucht kam, aber am Beispiel der Grünen lässt sich gut aufzeigen, wie sich so eine Gewichtsverlagerung der allgemeinen Stabilität geschuldet langsam zur Mitte hin bewegte. Entgegengesetzte Fliehkräfte. Oder politischer ausgedrückt: Eine Entradikalisierung. Um nun aber vom äußeren Rand zur Mitte zu gelangen, muss es diesen Platz am Rand erst einmal geben. Um im Bild zu bleiben: Wenn der Rand nicht besetzt ist, rotiert alles einfach immer schneller um die Mitte. Das ist Ende der Vielfalt. Demokratie im Standmixer.
„Ohne Umwege über den Linkssozialismus wäre ich kaum der geworden, der ich bin“, schrieb Willy Brandt 1989 in seinen „Erinnerungen“. Und ein Juso-Spruch lautete: „Wer mit 20 nicht revolutionär, ist mit 50 reaktionär.“ Beide Zitate basieren auf der Erkenntnis, dass Demokratie, das die Vielfalt der Auffassungen eine Wertschätzung verdient haben. Und das ihnen eine Aufgabe zukommt, die für unsere Demokratie unerlässlich ist.
Nun ist der Versuch, die Ränder dieser Demokratie zu beschneiden nichts Neues. Sie ist sogar zyklisch: Mal trifft es die radikale Linke, die von Verboten und Drangsalierungen betroffen ist, wie in den Jahrzehnten des Kalten Krieges, aktuell ist es wieder die radikale oder sogenannte „Neue Rechte“, die ja nicht neu ist, sondern lediglich die alte Rechte, die auf neue bzw. erschwerte Bedingungen trifft und sich am Rand aufgestellt hat. Nicht umsonst haben unsere Verfassungsväter dort am Rand besagte stabile Reling aufgebaut. Sogar als Aufforderung sich anzulehnen. Als Stütze. Erst wer darüber hinwegklettert, fällt tief. Es braucht also keine verengende Bannmeile vor diesem Abgrund. Weit vor dieser Reling.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse müssen einfach immer neu erstritten, von radikalen Auffassungen in Frage gestellt werden. Nur so kann uns ihr Wert bewusst werden. Das müssen wir endlich wieder aushalten lernen. Wir brauchen wieder diesen Marktplatz der Überzeugungen. Mögen Sie noch so waghalsig sein. Denn wenn wir alles, das uns unbequem erscheint, leichtfertig stigmatisieren, verteufeln, machen wir Demokratie zur Farce. Zu einem Lippenbekenntnis. Zu einem stickigen Einparteienzelt in einer verlassen Luxusvilla voller Möglichkeiten. Zum Totentanz in der Villa democrazia.