GASTSPIEL: Felix Honekamp über Demokratie und Freiheit

Was, wenn eine Mehrheit morgen entscheiden sollte, dass Autos nicht mehr rot sein dürfen, weil statistisch mit roten Autos mehr Unfälle passieren? Was, wenn eine Mehrheit morgen entscheiden sollte, dass Rasenflächen in Gärten nur noch auf eine minimale Länge gestutzt werden dürfen, damit Kaninchen und Regenwürmer dort besser überlebensfähig sind? Was, wenn eine Mehrheit morgen entscheiden sollte, dass Kirchenglocken nicht mehr geläutet werden dürfen? Oder keine Minarette mehr gebaut werden dürfen?

Demokratie: Die Herrschaft des Staatsvolkes, meist vertreten durch ein Parlament! Kaum ein politisches System hat es in der Vergangenheit geschafft, sich derart unangreifbar darzustellen. Will man heute einer politischen Richtung oder der Regierung eines Landes den schwerstmöglichen politischen Vorwurf machen, dann lautet der, sie sei undemokratisch.

„Demokratie“, so ein bekanntes Bonmot Winston Churchills, „ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Von den allermeisten wird das übersetzt mit „die beste aller Regierungsformen“, wodurch der versteckte Hinweis auf die Mängel dieser Staatsform, die eingangs beispielhaft und – zugegeben – polemisch dargestellt wurden, vollständig ausgeklammert wird. Kritik an der Demokratie wird schnell als „undemokratisch“ bezeichnet, dabei sollte doch gerade in einer Demokratie – so sie denn wirklich frei ist – gerade die Diskussion über die Staatsform legitim sein. Wenn die Demokratie zu einem „weltlichen Gott“ erhoben wird, ist dagegen Gefahr im Verzug. Dabei gerät auch schnell aus dem Blick, dass Freiheit und Demokratie oft in einem Atemzug genannt werden, aber keine Synonyme darstellen. Als Gegenteil der Demokratie wird allzu leicht die Diktatur, die Alleinherrschaft eines Tyrannen oder Königs oder auch einer Partei bezeichnet, bei der Herrscher oder Herrschende nicht durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen sind.

Dabei ist schon der Definition – Herrschaft des Staatsvolkes – zu entnehmen, dass mit einer solchen Gegenüberstellung kein Gegenteil beschrieben wird. So wird auch in einer Demokratie Herrschaft ausgeübt – nur eben nicht durch einen Diktator. Egal ob in Form einer direkten oder einer parlamentarischen Demokratie, oder einer der vielen Mischformen: Immer werden Entscheidungen getroffen, denen sich Minderheiten zu beugen haben. Wird also in einer Demokratie über Autofarben entschieden, dann müssen sich auch die daran halten, die dergleichen für hanebüchenen Unsinn halten. Werden in einer Demokratie Steuer- oder Sozialgesetzgebungen entschieden, dann sind diejenigen, die die entschiedene Politik für falsch halten, nicht nur gezwungen, sie zu akzeptieren; sie müssen sie auch finanzieren! Wenn Freiheit unter anderem bedeutet, über das legal erworbene Eigentum frei zu verfügen, dann wird diese Freiheit schon beträchtlich eingeschränkt.

Eine solche Problematik entsteht – und hier wird es wirklich schwerwiegend für den Erhalt einer freien und demokratischen Gesellschaft – besonders in einem Sozialstaat wie in Deutschland oder vielen anderen Ländern Westeuropas: Opportunistische Entscheidungen wie Wahlgeschenke verhelfen Parteien zur Mehrheit, Sparkurse dagegen sind Gift in jedem Wahlkampf. Derartige Wohltaten werden – je größer der Anteil der Nettoempfänger ist – zu einem wahlkampfentscheidenden Faktor. Mahnende Stimmen, die für eine rigide Ausgabenpolitik stimmen oder gar das Wort der freien Marktwirtschaft im Mund führen, werden so schnell als unsozial abgestempelt, jedenfalls aber überstimmt. Freiheit – im Sinne einer Verfügungsgewalt über sich selbst und sein Eigentum – sieht anders aus.

So ist auch der Satz Thomas Jeffersons zu verstehen: „Demokratie ist, wenn sich zwei Wölfe und ein Schaf am Tag darüber unterhalten, was es am Abend zum Essen gibt.“ Scherzhaft – und um deutlich zu machen, dass es sich bei Freiheit und Demokratie nicht um Synonyme handelt – fügen manche diesem Satz eine Ergänzung an: „Freiheit ist, wenn das Schaf mit einer Waffe in der Hand Einspruch erheben kann.“ Freiheit und Demokratie werden durch all das nicht zum Widerspruch, das hieße, den benannten Erläuterungen zu viel Gewicht zuzumessen. Freiheit und Demokratie stehen aber schnell in einem Spannungsverhältnis, sobald sich auch nur ein Einzelner einer demokratisch verfassten Entscheidung nicht beugen möchte – egal ob aus egoistischen Gründen, ob er der Meinung ist, dass die Entscheidung fachlich falsch und schädlich ist, oder ob es sich um eine für seine Begriffe unmoralische Entscheidung handelt. Aber auch wenn es nicht um Begriffe wie Moral oder Richtigkeit geht: Jede Entscheidung, durch die jemand anderes zu einem Handeln gezwungen wird, widerspricht der Freiheit. Insofern, so ein ebenfalls geflügelter Satz, ist auch die Demokratie ein Mittel, von dem nur mit Augenmaß Gebrauch gemacht werden sollte – auch demokratische Entscheidungen können unrecht und freiheitsbeschränkend sein.

Für die Demokratie, und auch die Form der parlamentarischen Demokratie, sprechen dagegen einfache Praktikabilitätsgründe. Bestimmte Entscheidungen sind auf einer übergeordneten Ebene – kommunal, national, manche vielleicht international – zu treffen, damit sie wirksam werden können. Soll ein Einzelner die Kultivierung seines Gartens bestimmen und eine Nachbarschaft möglicherweise noch recht einfach über die Gestaltung des gemeinsamen Spielplatzes abstimmen können; bei anderen Themen wird es deutlich komplexer, lokal zu handeln und zu entscheiden. Zu diesen Fragen gehören zum Beispiel die innere und äußere Sicherheit oder auch ein Mindestmaß an sozialem Netz für in Not Geratene. Allein aus finanziellen Gründen sind derartige Entscheidungen nur auf überregionaler Ebene sinnvoll zu treffen, und wäre es im Umkehrschluss nicht möglich, auf eine einstimmige Entscheidung zu setzen. Eine demokratisch mit Mehrheit gewählte Regierung oder ein Parlament erscheint da das willkommene Mittel der Wahl, derartige Themenfelder bearbeiten und entscheiden zu können.

In einer solchen Sichtweise fußt auch das Selbstverständnis der Politik und der Politiker: Derjenige der sich als Diener des Volkes versteht, sieht seine Aufgabe darin, die Probleme eines Landes, das ihn gewählt hat, zu lösen. Ein solches Selbstverständnis droht aber schnell aus dem Ruder zu laufen. So enthält der Koalitionsvertrag von 2013 der schwarz-roten Koalition neben eindeutig national zu lösenden Themen auch solche wie den W-LAN/Breitbandausbau, die Gestaltung der Zeit für die Familie, Wartezeiten auf Facharzttermine oder – gerade wieder aktuell – die Förderung der Elektromobilität. Die Botschaft einer solchen Politik an die Bevölkerung und die Wähler lautet: Macht euch keine Sorgen, wir kümmern uns um alles! Möglicherweise hat so mancher Politiker dabei eine Hollywoodsicht auf sich als aufrechten, demokratischen und gerechten Helden: Ein Präsident, der die Welt rettet wie Bill Pullman als Präsident Whitmore im Film „Independence Day“ oder zumindest sein Team um sich herum raushaut, wie Harrison Ford als Präsident Marshall in „Air Force One“ – das sind die starken Typen, die sich mancher Wähler an den Schalthebeln der Macht wünscht, und als die diese sich auch gerne identifizieren.

Doch dieses Fremdbild ist einem drastischen Wandel unterworfen: Den meisten erscheint es, dass ein Regierungschef eher Ähnlichkeit hat mit dem von Kevin Spacey gespielten Frank Underwood aus der US-Serie „House of Cards“ – korrupt, gewissenlos, unmoralisch und mit dem eiskalten Spruch auf den Lippen, dass Demokratie maßlos überschätzt wäre. Beide Bilder von Politik und Politikertypen sind natürlich bis auf Einzelfälle nicht realistisch; nur sollte man nicht meinen, dass der unmoralische Machtmensch unwahrscheinlicher wäre als der altruistische erste Diener seines Volkes. Politiker sind auch nur Menschen, darum ist ein übermenschlicher Anspruch – des Politikers an sich selbst oder des Wählers an den Politiker – nicht gerechtfertigt. Dabei ist die bislang noch oft anzutreffende Einschätzung der Politik durch die Wähler „Die kümmern sich! Die machen das!“ genauso einseitig wie das sich langsam aber sicher breitmachende „Die belügen und betrügen uns alle!“. Man darf dem durchschnittlichen engagierten Politiker durchaus seine Sorge um Land und Leute abnehmen. Man darf ihm abnehmen, dass er nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen trifft. Aber erstens bedeutet guter Wille nicht gleichzeitig gute Entscheidungen in immer komplexeren Themen. Und zweitens sollte der Satz des großen politischen Liberalen und Katholiken des 19. Jahrhunderts, Lord Acton, immer im Hinterkopf bleiben: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.“ – Wer einmal von der Macht gekostet hat, dem mag der Ausbau der Macht allzu verführerisch erscheinen – die Schweine aus George Orwells „Farm der Tiere“ lassen grüßen.

Wenn nun aber die Demokratie und die Freiheit in einem Spannungsverhältnis stehen und die parlamentarische Demokratie ebenfalls mit den beschriebenen Risiken für die Freiheit einhergeht, eine solche Regierungsform aber schon alleine aus Praktikabilitätsgründen in vielen Fällen angeraten erscheint: Was ist dann die Alternative?

Der libertäre Denker Roland Baader hat in seinen 2008 erschienenen „Freiheitsfunken“ deutlich gemacht, dass die Essenz der Freiheit nicht in der Mitbestimmung, sondern in der Selbstbestimmung liegt. Zu ihr steht die Demokratie – die einen Teil, oft einen zu großen Anteil der Selbstbestimmung aufhebt – tatsächlich im Widerspruch. An ihr muss sich darum eine demokratische „Legitimation“ messen, weil sie in der Regel die Freiheit der Menschen beschneidet. Demokratische Entscheidungen sind nur in dem Maße legitim, wie anders keine angemessene Problemlösung gefunden werden kann. Darüber hinaus ist ein heilsamer Prozess der Bewusstwerdung der Möglichkeiten und Grenzen der Politik notwendig. Praktikable und ethisch vertretbare Alternativen zu einer Demokratie stehen nicht zur Diskussion, daher wird es darum gehen müssen, das System der Demokratie an sich zu optimieren.

Mehr Subsidiarität statt Zentralisierung von Entscheidungen, mehr Selbstverantwortung statt Delegation von Verantwortung auf Staat und Regierung, mehr Sachauseinandersetzung statt machiavellistischer Machtpolitik, und mehr – um dieses altmodische Wort zu benutzen – Demut in der Politik statt Allmachtsphantasien, alles lösen zu müssen und zu können: Es ist ein anderer Politik- und Demokratiestil, der notwendig ist, damit nicht plötzlich Alternativen aufstehen, die weder für überzeugte Demokraten noch für Verteidiger der Freiheit akzeptabel sein werden. Papst Benedikt XVI. hat in seiner Rede vor dem Bundestag am 22. September 2011 die Bitte des jungen Königs Salomo an Gott wiedergegeben: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ (1. Kön 3, 9). Das Gute zu tun, das Richtige zu entscheiden, auch einzusehen, eine Entscheidung nicht treffen zu können oder zu sollen, das muss für einen Politiker der Maßstab sein; und es muss – umgekehrt – für den Wähler das Argument zur Stimmabgabe für einen Politiker sein. Der Anspruch mag hoch sein, er mag zu idealistisch oder gar naiv klingen. Aber welchen Grund sollte man als Wähler haben, einen Politiker zu wählen, von dem man nicht wenigstens annimmt, dass er sich um ein solches Verständnis und um eine solche Politik bemüht?

Zynismus und Politikverdrossenheit haben insofern bei allen Mängeln der Politik keinen Platz. Die Politik an sich ist in der Tat alternativlos: Entscheidend sind die Maßstäbe, die an eine gute Politik angelegt werden, damit Demokratie und Freiheit am Ende in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.

Erstveröffentlichung 9. Mai 2016 in „Die Tagespost“ www.die-tagespost.de