GASTSPIEL TODD HUIZINGA: Die Verfassung auslegen, wie sie geschrieben steht

Amy Coney Barrett, von US-Präsident Donald Trump als Bundesrichterin nominiert, hat ihre Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Senats gut überstanden. In der vorgesehenen Abstimmung des Ausschusses am 22. Oktober, zwölf  Tage vor der Präsidentenwahl, wird allem Anschein nach die republikanische Mehrheit der Nominierung zustimmen. Wahrscheinlich wird dann am 26. Oktober, acht Tage vor der Wahl, eine hauchdünne Mehrheit der Senatoren (Wahrscheinlich 51 Ja-Stimmen gegen 49 Nein-Stimmen) die Nominierung in Plenarsitzung bestätigen. Der Versuch des Präsidenten, eine konservative Richterin möglichst schnell nach dem Tod der progressiven Bundesrichterin Ruth Bader Ginsburg einzusetzen, wird voraussichtlich gelingen. Die Amtszeit eines Bundesrichters ist unbefristet. Mit der 48-jährigen Amy Coney Barrett, Trumps dritter Ernennung zum Obersten Bundesgericht, werden sechs von neun Richterstellen im Obersten Bundesgericht von Konservativen besetzt. Eine konservative Mehrheit wird wahrscheinlich für eine ganze Generation lang gesichert.

Die Demokraten behaupten, dass mit einer Bundesrichterin Barrett das Recht der Frau, abzutreiben, sowie die Krankenversicherung für alle gefährdet wären. Tatsächlich gibt es eine Verfassungsklage gegen Obamas Gesundheitsreform, die auf dem Terminkalender des Obersten Bundesgerichtes steht, aber niemand weiß, wie Barrett in dem Fall entscheiden würde. Außerdem ist die Behauptung falsch, dass eine flächendeckende Krankenversicherung nur durch Obamas Gesundheitsreform, „ObamaCare,“ gewährleistet wäre. Was Abtreibung betrifft, ist Barrett persönlich pro-life. Aber auch hier weiß niemand, wie sie im Fall einer Klage gegen die Verankerung des Rechts auf Abtreibung in der Verfassung entscheiden würde. Bestimmt war die Entscheidung im Fall Roe v Wade falsch, die 1973 auf Biegen und Brechen ein Recht auf Abtreibung in einer Verfassung ausfindig machte, in der gar nichts über das Thema steht. Ob Barrett aber fast 50 Jahre danach dafür wäre, diese inzwischen in der Rechtskultur der USA verfestigten Entscheidung aufzuheben, ist unklar.

In Wirklichkeit steht bei der Sicherung einer konservativen Mehrheit im Obersten Bundesgericht, die mit der Ernennung Amy Coney Barretts erfolgt, etwas viel Grundsätzlicheres auf dem Spiel. Es geht um den Ansatz des „Originalismus“ in der Rechtsprechung gegen die Idee der lebendigen Verfassung. Kurz gefasst ist der Originalismus das Prinzip, dass die Verfassung „wie sie geschrieben ist“ interpretiert werden muss: bei jeder Verfassungsklage muss der Verfassungsrichter also versuchen, die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes danach zu prüfen, ob es mit dem geschriebenen Grundgesetz in seiner ursprünglichen Bedeutung im Einklang ist. Wenn man die Verfassung abändern will, so gibt es etliche in der Verfassung selbst vorgeschriebenen Verfahrensweisen, das durchzuführen. Die Richter dürfen den Abänderungsvorgang nicht kurzschließen, indem sie nach ihrem eigenen politischen Geschmack über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes entscheiden. Die konservativen Richter, allen voran Amy Coney Barrett, sind bemüht, sich in ihrer Rechtsprechung am Text der geschriebenen Verfassung zu halten.

Die Progressiven dagegen sind mehrheitlich Verfechter der lebendigen Verfassung. Sie meinen, dass das Grundgesetz sich ständig mit den sich verändernden Zeiten weiterentwickelt, neue Bedeutungen annimmt, die den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten entsprechen, ohne dass es förmlich abgeändert werden müsste. Und siehe da: komischerweise sind diese Weiterentwicklungen, diese neuen Bedeutungen, die die Verfassung von sich selbst annimmt, irgendwie allzu oft mit den politischen Standpunkten und gesellschaftlichen Vorlieben der progressiven Richter deckungsgleich.

Die Progressiven instrumentalisieren die „lebendige“ Verfassung, um ihre eigenen politischen Ziele zu erreichen (siehe z. B. Roe v. Wade), ohne dass die Wähler und der Kongress etwas dazu sagen können. Dem Ärger einer politischen Debatte oder einem Votum, das man ja verlieren könnte, geht man somit schön und sauber aus dem Weg. Die Verfassung wird ausgenutzt, um die Demokratie zu entdemokratisieren. Und gerade wegen der berechtigten Verehrung der Verfassung in den USA, hat man eine Chance, diese Aushöhlung der Demokratie durchzusetzen, ohne dass dagegen Einspruch erhoben wird.

Sogar in dieser Zeit der „cancel culture“, der Ausstreichkultur, in der Andersdenkende mit betäubender Regelmäßigkeit geächtet und beschämt werden, stellt die Idee der lebendigen Verfassung womöglich die größte Herausforderung des amerikanischen Rechtsstaats dar. Die Frage ist einfach: Will man die Existenz eines allen verständlichen Grundgesetzes anerkennen, auf dem der ganze amerikanische Rechtsstaat ruht, oder will man neun Bundesrichtern die Macht verleihen, nach ihrem eigenen Gutdünken zu entscheiden, was die sich konstant und mysteriös sich verändernde Verfassung bei jeder neuen Verfassungsklage besagen sollte?

Die Demokraten wollen das Letztere. Sie politisieren die Rechtsprechung schon so lange, um ihre politischen Vorhaben undemokratisch durchzusetzen, dass sie vergessen haben, was es heißt, einen gut strukturierten Rechtsstaat aufrechtzuerhalten. Sehr viele Demokraten sprechen sogar offen von „court packing“, einer „Gerichtsausdehnung“. Im Fall eines Wahlsiegs von Joe Biden wollen sie die Anzahl der Bundesrichter erhöhen, bis es eine progressive Mehrheit im Obersten Bundesgericht gibt, die all ihre Wunschträume durchwinkt. Für sein Teil weigert sich Biden zu sagen, ob er in dieses Vorhaben einwilligen würde. Glaube, was man wolle: Joe Biden ist es – und nicht der Medienbuhmann Donald Trump – der eine Gefahr für die freiheitliche Demokratie darstellt.

In den vier Jahren seit seiner Amtsübernahme hat Trump nicht nur das Oberste Bundesgericht  gründlich erneuert, sondern auch fast 200 Richter in den Vorinstanzen ernannt, die Recht sprechen und nicht Politik machen. Das ist eine enorme Leistung, die nicht nur seine Stammwähler würdigen. Mit Amy Coney Barrett hat Trump jetzt abermals eine hochqualifizierte Juristin ernannt, die integer und unpolitisch Recht spricht. Was die darauffolgende Wahl angeht, ist es trotz der düsteren Umfragewerte gut möglich, dass sich diesmal das linke Projekt der Politisierung des Verfassungsgerichts als ein großer Fehlschlag für die Demokraten erweist.

 

Todd Huizinga ist Präsident des Center for Transatlantic Renewal und Senior Fellow für Europa für das Religious Freedom Institute. Er ist Autor von „Was Europa von Trump lernen kann“ (Berlin: Vergangenheitsverlag, 2017).

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