Ja, das Kind hat recht. Nein, unterbrich es nicht. Hör ihm zu.
Alexander Kissler gehört zu den wenigen Autoren, bei denen es grundsätzlich ein intellektueller Gewinn ist, seine Gedanken und Betrachtungen Wort für Wort aufzusaugen. Nach Stationen bei FAZ, Süddeutsche und FOCUS leitete er sieben Jahre das Kulturressort des „Cicero“ und ist seit drei Monaten politischer Redakteur im Berliner Büro der „Neuen Züricher Zeitung„, die auch ich als eine Art neues Westfernsehen betrachte angesichts des bedauerlichen medialen Mainstreams in Deutschland, der Debatten immer dann nahezu unmöglich zu machen droht, wenn es gerade spannend wird. Will sagen: Kissler ist bei der NZZ genau richtig.
Gerade hat er mit einem neuen Buch „Die infantile Gesellschaft“ einen Leckerbissen vorgelegt, der erneut den Irrsinn unserer Zeit aufspießt. „Wir sind eine Gesellschaft der Kindsköpfe geworden“, beschreibt der Autor selbst den Roten Faden seines Werks auf dem Klappentext. Und das ist zurückhaltend formuliert. Ich würde die Entwicklung unserer Gesellschaft als zunehmende Verblödung beschreiben, doch wo Alexander zum Florett greift, bevorzuge ich oft halt die Hellebarde.
Politik und Kirche bekommen in der „infaltilen Gesellschaft“ ihr Fett weg, aber mein persönliches Highlight ist das Kapitel „Greta, Luisa, Felix & Co.. Wer denkt in unseren bürgerlichen Milieus nicht an Naivi- und Infantilität, wenn er an den Kinderkreuzzug der Heiligen Greta aus Schweden denkt? Hochgeehrt mit dem „Alternativen Nobelpreis“, im ständigen Gespräch mit den Mächtigen der Welt ist die 17-Jährige als Anschauungsobjekt geeignet wie keine Zweite. Das „kindliche Klimaorakel“ nennt der Autor Fräulein Thunberg. Und messerscharf folgert er, dass in unserer Gesellschaft längst eine „Umkehrung“ stattgefunden habe:
„Die Jungen lassen die Alten wie Pennäler dastehen. Erwachsene zucken zusammen, verfallen in innere Habachtstellung. In sofort zerknirschte Duldungsstarre. Ja, das Kind hat recht. Nein, unterbrich es nicht. Hör ihm zu. Stimmt. Sorry.“
Beim Lesen neigt man unwillkührlich dazu, in den Grönemeyerschen Singsang verfallen zu wollen und „gebt den Kindern das Kommando“ zu summen. Was ist los mit uns, mit dieser Gesellschaft, mit dem einstigen Volk der Dichter und Denker? Ja, was ist los mit der ganzen Welt? Alle verrückt geworden?
Lustvoll zelebriert Alexander Kissler die Begegnung der jungen Frau mit den Zöpfen, die den Mächtigen der Welt ein – nüchtern betrachtet idiotisches – „How dare you?“ entgegenschleuderte und dafür braven Applauf der Gescholtenen erntete. Und dann: Handshake mit Papst Franziskus auf dem Petersplatz in Rom.
„Eine Privataudienz ist es nicht, die Schwedin steht in der sogenannten Prima fila, der ersten Reihe, und wechselt einige Worte mit dem Argentinier. Es werden Fotos gemacht, Fotos für die Welt. Fotos erst machen aus Menschen Ikonen, wie es früher Gemälde taten. Greta Thunberg gilt zurecht als ‚globale Ikone’… (…) Ikonen sind einerseits popularisierte Symbole, andererseits Andachtsbilder, die den Weg zum Himmel weisen…“
„Die infantile Gesellschaft“ von Alexander Kissler – ein Must-Read für diejenigen, die verstehen wollen, wie diese immer irrer werdende Welt von heute funktioniert.