Das Leid der Kinder nicht verbergen, aber auch nicht missbrauchen

Als Leitender Redakteur einer Tageszeitung habe ich vor einigen Jahren mal eine Rüge des Presserates für unser Blatt eingefangen. Ich hatte zu einem Artikel über einen brutalen Mordfall im Ruhrgebiet ein Foto für den Druck genehmigt, auf dem im Hintergrund die verbrannte Leiche des Opfers zu sehen war. Mein Chefredakteur war „not amused“, um es zurückhaltend zu formulieren. Es ist für einen Journalisten immer so eine Sache mit schrecklichen Fotos. Zum einen haben Mediennutzer das Recht, nicht ungewollt mit schlimmen Wahrheiten konfrontiert zu werden. Zum anderen gibt es immer noch in vielen Redaktionen ein journalistisches Ethos, was vertretbar ist und was nicht. Seit gestern sorgt das Bild eines toten syrisches Kindes weltweit für Aufsehen und erregte Debatten. Darf man so etwas zeigen? Ich denke, es gibt weder objektive Gründe für ein Ja noch für ein Nein. Auf facebook schrieb mir letztens jemand, wenn Flüchtlinge in der Nachbarschaft untergebracht würden, sinke der Wert seiner Immobilien. Solchen Menschen müsste man Tag für Tag Fotos von erbarmungswürdigen Geschöpfen zeigen. Immer und immer wieder, damit sie begreifen, dass wir hier über Menschen reden und nicht über Schrottautos, die man bitteschön anderswo abstellen soll, damit sie das landschaftliche Panorama nicht beeinträchtigen.

Auf der anderen Seite ist das Foto eines toten Kindes für Menschen, selbst wenn sie nur zu gering ausgeprägter Empathie fähig sind, kaum zu ertragen. Wenn so etwas dann auch noch mit politischen Belehrungen verknüpft wird, dann sind sämtliche roten Linien überschritten. Ein furchtbares Schicksal, eine Kind, dessen Leben so früh auf grauenhafte Weise beendet worden ist, sagt uns nichts über die Aufnahme- und Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung, über die richtige Politik in dieser Ausnahmesituation oder über die dauerhaften Folgen von Masseneinwanderung für unsere Gesellschaft. Es dokumentiert eine Tragödie, an denen unsere Welt wahrlich keinen Mangel hat. Viele Kinder sterben jeden Tag. Sie verhungern in Afrika, sie verrecken in nordkoreanischen Straflagern, sie ertrinken im Mittelmeer. Sie für politische Propaganda zu missbrauchen, ist widerlich. Aber wir dürfen auf keinen Fall vergessen, dass es diese Kinder gibt.




Ausnahmezustand – Unsortierte Gedanken zur Flüchtlings-Krise

Man kann es drehen und wenden, DAS Thema derzeit ist der Zustrom an Flüchtlingen nach Deutschland. Und weil die Situation so viele Facetten hat, möchte ich einfach mal ein paar Puzzlestücke zur Diskussion in den Raum werfen.

Überraschung
Warum sind wir eigentlich so unvorbereitet gewesen? Als der Andrang explodierte, waren Bund, Länder und Kommunen offenbar völlig überrascht vom Umfang des Zustroms. Inzwischen scheint die Lage halbwegs unter Kontrolle, der Bund hilft, die Städte organisieren sich, freiwillige Helfer leisten großartige Arbeit. Doch fragt man sich unwillkürlich, was eigentlich die Analysten im Bundesaußenministerium und unser Auslandsgeheimdienst BND beruflich machen. Die Zahl der zu erwartenden Flüchtlinge wird ständig nach oben korrigiert – keiner weiß, was morgen sein wird. Für ein gewöhnlich gut organisiertes Land eine beschämende Situation.

Alternativen
Gibt es irgendeine Alternative dazu, den Flüchtlingen zu helfen? Das ist keine Frage: Nein, die gibt es nicht. Wollen wir abends zuschauen, wenn die Leute im Mittelmeer ersaufen? Was ist dann mit dem christlichen Abendland, das so viele Menschen hierzulande verteidigen möchten? Bei den Leuten, über die wir sprechen, handelt es sich um Menschen. Manche fliehen vor politischer Verfolgung, die meisten suchen wohl eine menschenwürdige Perspektive für ihr Leben. Egal, warum sie hier ankommen, welche Hautfarbe oder Religion sie haben, es sind Menschen, die Hilfe benötigen. Deutschland ist stark und reich, wir können diese erste Hilfe leisten.

Perspektive
Deutschland kann die Probleme aller Verzweifelten dieser Welt nicht lösen. Auch Europa kann das nicht. Wir können helfen, aber wir können nicht jeden auf Dauer bei uns behalten. Das muss immer wieder klar gesagt werden.Und es muss aufhören, dass unsere Regierung Werbefilmchen produzieren lässt, die dann auf dem Balkan in Landessprache gezeigt werden und eine Art Paradies auf Erden in Deutschland suggerieren. Stattdessen sollte man TV-Spots produzieren und klar sagen, dass es für Bewohner von Ländern, die in die EU wollen, hier auf gar keinen Fall Asyl geben wird.

Die Zukunft der großen Mehrheit der Flüchtlinge muss in ihrer Heimat stattfinden. Wir, der Westen, sollten helfen, dort sichere Inseln zu schaffen, wo die Leute, die jetzt nur noch weg wollen, eine Zukunft finden können. Ohne Angst und Krieg, aber mit Bildung und menschenwürdigen Lebensverhältnissen. Niemand soll glauben, dass das in ein, zwei Jahren zu schaffen ist. Es wird mindestens eine Generation dauern. Vielleicht länger. Aber wir können 12 Jahre lang Krieg am Hindukusch führen, dann werden wir gemeinsam mit unseren Partnern auch in Nordafrika etwas aufbauen können.

Zur Wahrheit gehört auch: Es kann nicht so bleiben, dass 85 Prozent der abgelehnten Asylbewerber einfach hierbleiben dürfen wie bisher. Wer abgelehnt wird, muss auch zeitnah abgeschoben werden – damit Platz und Mittel für diejenigen bereitstehen, die wirklich Hilfe benötigen.

Ängste
Etwa eine Millione Flüchtlinge werden in diesem Jahr nach Deutschland kommen. Wer aus Syrien und Irak kommt, hat meistens schlimme Dinge erlebt. Ich bin froh, wenn wir denen, die vor den IS-Mordbanden flohen, eine sichere Zuflucht bieten können. Da sind viele Christen dabei. Aber es werden in diesem Jahr auch ca. 600.000 Muslime in unser Land kommen. Das macht vielen Menschen Angst. Nein, es ist keine „Invasion“, die hier läuft. Die Muslime aus Syrien und dem Irak sind ja gerade vor den Irren, den islamistischen Menschenschlächtern geflohen. Aber es sind Menschen aus einer ganz anderen Kultur, mit ganz anderen Vorstellungen vom Zusammenleben in einer Gesellschaft. Schon vor dem Zustrom an Flüchtlingen spitzten sich die Probleme mit Personengruppen aus dem islamischen Kulturkreis in unserem Land zu – schauen Sie nach Berlin, Dortmund, Kön, Duisburg und Essen. Eine solche Transformation ist ohne einen breiten gesellschaftlichen Konsens nicht möglich, und den gibt es nicht. Wenn führende Politiker unseres Landes glauben, man könne Multikulti anordnen, befördern sie Zustände, wie wir sie jetzt in einigen sächsischen Städten gerade zu sehen bekommen haben. Denk- und Redeverbote in der Frage, wie viel Islam diese Gesellschaft akzeptieren möchte, können zu einer gefährlichen Eskalation führen.

Hilfsbereitschaft
Die Bereitschaft der Bürger, in der aktuellen Situation aktiv zu helfen, ist sehr groß, und nach meinem Eindruck wächst sie sogar noch. Eine Facebook-Freundin schrieb heute, sie habe erstmals ehrenamtlich Deutschunterricht für Flüchtlinge gegeben und war beeindruckt, mit welcher Ernsthaftigkeit ihre „Schüler“ bei der Sache waren. In Nordhrein-Westfalen haben sich gerade Hunderte pensionierte Beamte gemeldet, die in den Flüchtlingsunterkünften organisieren helfen, Sprachkurse geben und Behördengänge mit Flüchtlingen unternehmen wollen – ohne Bezahlung.

In unserer Kirchengemeinde wurde letztens aufgerufen, alte Fahrräder für Flüchtlinge zu spenden. Wir hatten keins übrig, aber eine alte, nicht mehr schöne, jedoch voll funktionsfähige Küche. Unser Angebot wurde gern angenommen. Ein Ehrenamtlicher erschien also mit acht Männern – muslimische Syrer und christliche Nigerianer gemeinsam – um die Küche auszubauen und abzutransportieren. Keine leichte Sache bei 35 Grad Celsius. Als alles verpackt war, hatte meine Frau noch zwei Kisten mit Tellern, Töpfen, Gläsern, einem alten Skateboard und weiterem Kleinkram als Zugabe gepackt. Wir fragten, ob sie auch ein wenig Geld annehmen wollten, doch sie lehnten geradezu empört ab. Sie bedankten sich mit großer Herzlichkeit und erklärten uns, wie froh sie sind, dass es in Deutschland freundliche Menschen gibt, die helfen. Arbeiten, ja das würden sie hier gern, aber Geld geschenkt bekommen – auf keinen Fall.

Europa
Regelmäßige Leser meiner Texte wissen, dass ich Europa grundsätzlich für eine grandiose Idee halte. Als Staatenbund von Nationen, nicht als Bundesstaat, versteht sich. Immer wieder hat das Europa, das unter dem Oberbegriff EU firmiert, in großen politischen Fragen versagt. Inzwischen steht Brüssel als Synonym für überbordenden Bürokratismus, für Bevormundung, für einen Moloch. In der aktuellen Krise könnte also die Stunde der Europäer schlagen. Eine gewaltige Herausforderung – und 28 Staaten ziehen an einem Strang, um sie zu bewältigen. Doch das EU-Europa versagt erneut. Nur 10 von diesen 28 Staaten nehmen Flüchtlinge auf, der Rest schaut zu, gibt gute Ratschläge oder baut Zäune mit NATO-Draht. Was wir derzeit in Deutschland erleben, ist auch Folge des armseligen Bildes, das die EU in Sachen Flüchtlinge abgibt. Viele Länder, die auch von Deutschland und seiner Wirtschaftskraft profitiert haben, lassen uns angesichts des Millionenheeres an Flüchtlingen im Regen stehen. Und als jemand, der Europa für eine grandiose Idee hält, sage ich: Eine EU, die unsere Wirtschaft behindert und uns stattdessen mit Gender-Schwachsinn und Denkverboten beglücken möchte – auf so ein Europa kann ich verzichten, wenn es bei den wirklichen Herausforderungen unserer Zeit offenbar vollkommen unfähig ist.




GASTSPIEL: Alexander Kissler über die Kriegserklärung an den Westen

Der Islamismus bleibt das Grundrauschen des beginnenden 21. Jahrhunderts, auch im Westen. Es war ein Trugschluss, das Vorrücken des „Islamischen Staates“ für einen Kollateralschaden implodierender Staatlichkeit im Nahen und im Ferneren Osten zu halten. Nein, die zornigen jungen Männer, die wir nach vollbrachter Tat in lächelnder Pose auf unscharfen Fotos sehen, machen keinen Unterschied zwischen Rückzugs- und Aufmarschgebiet. Der Westen ist ihr Satan, den sie auf satanische Weise bekämpfen. Zu Menschen des Westens erklären sie auch alle heterodoxen oder gar liberalen Muslime. Insofern könnte der Terror des „Islamischen Staates“ das Band der Menschlichkeit stärken. Doch tut er es?

Der Tunesier Seifeddine Rezgui lächelt auf den Fotos, die uns gezeigt wurden nach seinem Massaker an knapp 40 Urlaubern am Strand von Sousse Ende Juni dieses Jahres. Er arbeitete vor seiner bestialischen Tat als Animateur. Nun lächelt der Marokkaner Ayoub al Khazzani von einem Foto hinaus in die Welt, die seinen Namen bisher nicht kannte. Er trägt einen Vollbart und eine weiße Häkelmütze, wie es unter Salafisten Brauch ist. Seine Tat konnte er dank des beherzten Eingreifens dreier US-amerikanischer Staatsbürger, darunter zwei Soldaten, nicht vollenden. Sie hätte gewaltige Ausmaße annehmen können. Bewaffnet mit einer Kalaschnikow und einem Messer, wäre aus Ayoub al Khazzani um Haaresbreite der „Thalys“-Massenmörder geworden. Zwischen Amsterdam und Paris konnte er kurz vor der französischen Grenze bei über 200 Stundenkilometern überwältigt werden.
Nun mag Ayoub al Khazzani noch eine Weile versuchen, die Welt, die er vermutlich hasst, zum Narren zu halten, und sich als obdachlosen Hungrigen inszenieren, dem zufällig eine Kalaschnikow in die Hände fiel. Es grenzte an ein Wunder, sollte diese Version der Geschichte sich als wahr herausstellen. Den Behörden in Spanien, wo er Aufenthaltsrecht genießt, gilt der 25-Jährige als potentiell gefährlicher Islamist. Ein- oder zweimal soll er in Syrien gewesen sein, unweit des Herrschaftsgebiets des „Islamischen Staates“. Nach allem, was wir wissen, ist Ayoub al Khazzani ein Rückkehrer, ein Terrorist in Wartestellung, eine Zeitbombe in Menschengestalt.

Deren Zahl geht europaweit in die Hunderte. Jenseits des Westens wurde ihr Hass auf den Westen verdichtet, so dass da keine Lebensluft und keine Zweifel mehr Platz haben. Ihre Existenz zeigt, dass dem Westen der Krieg erklärt worden ist im Namen eines extremistischen Radikalislam. Der Ausgang dieses Krieges wird von der Antwort des Westens abhängen. Erklärt er sich weiterhin für weltanschaulich nicht zuständig und verbucht die Anschläge maximal unspezifisch unter Terrorismus oder Bandenkriminalität, kann er diesen Krieg nicht gewinnen. Die Attentäter wie auch die große Gruppe ihrer Sympathisanten müssen zweierlei erfahren: dass der Westen nicht mit sich spaßen lässt und dass Intoleranz nicht mit Toleranz rechnen darf. Wo immer islamisch grundierter Fanatismus‘ sein Haupt erhebt, ist es keineswegs Ausdruck von Kulturimperialismus oder Spezialmoral, ihn entschlossen, mutig und umstandslos in die Schranken zu weisen. Wer den freien Westen angreift, praktisch oder theoretisch, weil ihm Freiheit verhasst ist, muss von der westlichen Zivilgesellschaft immer und immer wieder hören: Die Freiheit lassen wir uns von niemandem nehmen. Sind wir dazu bereit?

Vom Autor ist soeben erschienen: „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss.“ (Gütersloher Verlagshaus, 184 Seiten, 17,99 Euro).

http://www.blog.gtvh.de/alexander-kissler/




Freiheit! Freiheit! Freiheit! Verdammt noch mal….

Egon Bahr ist tot. Einer der großen alten Sozialdemokraten starb jetzt im Alter von 93 Jahren, und landauf landab wird er mit Superlativen gewürdigt. Einen „mutigen, aufrichtigen und großen Sozialdemokraten“ nannte ihn heute SPD-Chef Siegmar Gabriel, „“hochintelligent, einfühlsam und rhetorisch sehr begabt“, lobte Linken-Übervater Gregor Gysi, „ein mutiger Visionär und ein fantastischer Mensch“ würdigte NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und so weiter, und so weiter. Über alle Parteigrenzen hinweg wird ein Politiker gelobt, dessen Rückgrat und Konsequenz in so krassem Gegensatz zu vielen derjenigen aus der Politik stehen, die ihn heute würdigen. Aber es gibt einen Aspekt, der in den etablierten Medien heute nicht erwähnt wird, den man aber ruhig auch einmal betrachten sollte. Egon Bahr war über Jahre Leser der konservativen Wochenzeitung „Junge Freiheit“ (JF). Er gab dem Blatt Interviews, er war bereit, Beiträge zu schreiben. Mehr dazu hier. Den überwiegenden Teil meines politischen Lebens habe ich Egon Bahr und dem, für was er stand, skeptisch bis schroff ablehnend gegenüber gestanden. Als ich im zarten Alter von 16 Jahren begann, mich für Politik zu interessieren und der Jungen Union anschloss, hielt ich Bahr und Bundeskanzler Willy Brandt für Menschen, die Deutschland an die Sowjetunion „verkaufen“ wollten. Ich habe mich dramatisch geirrt. Mit der Vollendung der Deutschen Einheit 1990 wurde mir zunehmend klar, dass ihre Ostpolitik und das Konzept „Wandel durch Annäherung“ ein wichtiger Grundstein dafür waren, dass die schmerzhafte Teilung unseres Landes lange Jahre später gewaltlos überwunden werden konnte. Dafür gebührt diesen beiden Männern Dank und Respekt.

Ich habe begriffen und gelernt, dass es auch andere Sichtweisen als die eigene geben kann, die zum richtigen Ergebnis führen. Und ich habe zunehmend den intellektuellen Gewinn genossen, mich mit ganz anderen Sichtweisen als meiner eigenen auseinanderzusetzen, ohne dass ich dafür mein gesamtes Weltbild revidieren musste. Bis zuletzt fand ich, dass Bahr zu verständnisvoll gegenüber dem neuen Großmachtstreben Russlands war. Aber man darf das so sehen in einer freien Gesellschaft. Grundlage der Demokratie ist, dass es einander widerstrebende Sichtweisen und Meinungen gibt, die man aushalten muss. Sie sind zwingend notwendig für die Suche nach dem richtigen Weg. Und deshalb möchte ich hier noch einmal den Bogen schlagen zur „Jungen Freiheit“. Selbst bürgerliche und wohlmeinende Freunde empfehlen mir manchmal, doch dieses Blatt nicht zu lesen, weil es irgendwie etwas rechts und zu sehr Deutschland-fixiert sei. Aber darf man das nicht sein? Wer entscheidet das ? Wir reden nicht über Rechtsextremismus, Antisemitismus oder Rassismus, wir reden über KONSERVATIV. Egon Bahr hat die JF gelesen und sich von ihren Redakteuren interviewen lassen – ebenso wie sein SPD-Parteifreund Peter Glotz. Alt-Bundespräsident Romas Herzog von der CDU hat dem Blatt für ein Interview zur Verfügung gestanden, wie auch viele andere Politiker von Union, SPD, ja sogar der Grünen. Der große Journalist Peter Scholl-Latour hat regelmäßig für die „Junge Freiheit“ Beiträge geschrieben. Sind das jetzt alles Rechtsextremisten? Warum soll ich diese Zeitung nicht lesen oder – wie man jetzt formuliert „Berührungsängste“ zeigen? Weil eine lautstarke Minderheit mir das vorschreiben will? Ich lese täglich Welt und FAZ, oft BILD und auch die linksalternative TAZ. Das ist manchmal ein echter Genuss. Die TAZ, in der vor vielen Jahren Spendenaufrufe „Waffen für El Salavador“ erschienen, damit die kommunistischen Guerillas in Mittelamerika ordentlich was zu schießen und töten hatten. Oder das „Neue Deutschland“, jahrzehntelang Zentralorgan der SED-Diktatur. Die wird heute allgemein als ganz normale Tageszeitung angesehen. Und ich darf die „Junge Freiheit“ nicht lesen, dessen Chefredakteur in seinem Büro ein Portrait von Stauffenberg über dem Schreibtisch hängen hat, wie ich gerade in der „Zeit“ las?

Ich bin zu alt, um mir noch von irgendwelchen Clowns vorschreiben zu lassen, was ich denken oder lesen darf. Und ich lade Sie alle ein, die Denkschablonen auch zu durchbrechen. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland bröckelt. Denken Sie an die Autorin des „Westfalen-Blatts“, die ihren Job verlor, nachdem sie einen Leser, der seine kleinen Kinder nicht zum Blumenstreuen auf der „Hochzeit“ des homosexuellen Bruders mitnehmen wollte, in seiner Auffassung bestärkt hatte. Oder denken Sie an Politiker, deren Veranstaltungen in Universitäten abgebrochen werden mussten, weil sie ein pöbelnder Mob erfolgreich hinderte, zu sagen, was sie für richtig halten. Denken Sie auch aktuell an die von Lobbygruppen organisierten Protestbriefe an die Düsseldorfer Schulbehörde mit dem Ziel, die Räume für eine Veranstaltung mit „GenderGaga“-Autorin Birgit Kelle heute Abend in Düsseldorf kündigen zu lassen. Wer nicht im Mainstream schwimmt, soll an den Rand gedrängt, möglichst mundtot gemacht werden. Es ist beängstigend, wie von verschiedenen Seiten daran gearbeitet wird, den demokratischen Wettstreit in Deutschland durch das Ausschließen unliebsamer Meinungen zu zerstören.

Freiheit – das ist der entscheidende Begriff, um den unser politischen Denken kreisen sollte. Jeder soll lesen, denken und sagen, was er oder sie will. Das ist die Idee für unsere Gesellschaft, nachzulesen auch im Artikel 5 des Grundgesetzes. Da steht „Jeder hat das Recht, seine Meinung frei in Wort, Schrift und Bild zu äußern.“ Und da gibt es keinerlei Zusatz „sofern er nicht die falsche Meinung hat“.




GASTSPIEL: Alexander Wallasch über die Kultur der Entdemokratisierung

In meiner Kindheit waren Samstag auf dem Marktplatz immer die DKPler unterwegs. Ihr Tapeziertisch war vollgepackt mit engbedruckten Flyern, roten Aufklebern und dicken blauen Büchern: Marx’ Manifest in mehreren Bänden zum Schnäppchenpreis. Die Tapeziertischler waren hager, langhaarig und schlecht rasiert, aber dabei sanft wie die Lämmchen. Deshalb trauten wir uns auch näher heran. Und wir warteten darauf, dass die Rentner bei Tchibo ihren Frischgebrühten ausgetrunken hatten. Denn dann dauerte es nie lange, bis dem ersten Rentner der Kragen platzte: „Dann geht doch rüber!“, schnauften die alten Wehrmachtssoldaten für die alles, was sich links gab, automatisch den Stallgeruch der sibirischen Kriegsgefangenenlager hatte.

Diese plärrenden Cordhutträger waren aber keineswegs unverbesserliche Rechte. Man wählte CDU. Stramm zwar, aber doch CDU. Immerhin hatte jedes Helmut-Kohl-Wahlplakat irgendwas mit „Deutschland“ in der Headline. 1976 hieß es „Kanzler für Deutschland“, ’83 „Aufwärts mit Deutschland“ bzw. „Ein neuer Anfang für unser Land“, ’87 „Entscheidung für Deutschland“,’89 kurz vor der Wende „Im deutschen Interesse: Ja zu Europa.“ Und ’90 dann wieder alles von vorne: „Kanzler für Deutschland“.

Sie erkennen den Anachronismus? Er besteht im Wort „Deutschland“. Wahlplakate klingen heute so: „Wir haben die Kraft“, „Sie haben es in der Hand“, „Wer alles gibt, muss mehr bekommen“, „Nur mit uns“ oder „Es geht ums Ganze“. Ordnen Sie die jetzt bitte mal den Parteien zu. Kleiner Tipp: „ums Ganze“ beispielsweise geht es den Grünen.

Dieses Wischiwaschi könnte man belächeln, wäre es nicht symptomatisch für eine neue Kultur der Entdemokratisierung. Wir sind zu einem Land voller Wächter geworden. Und denen ist heute schon ein Bekenntnis zu Deutschland verdächtig. Ihr Marktplatz ist Facebook und Co. Dort agieren sie wie einst die Cordhutträger gegenüber den DKPlern. Man gibt sich aufgeklärt und weiß um den einen großen Konsens, den es gefahrlos gegen alle Widrigkeiten zu verteidigen gilt. Dabei ist Demokratie nach wie vor ausreichend von der Verfassung eingezäunt.

Demokratie als große Scheibe: An den äußeren Rändern eine feste Reling. Dort stand man zwar hart im Wind, aber man konnte sich bis an die Kante vorwagen und von dort aus ausloten, wie man Gesellschaft in Zukunft verändern könnte. Platz für schöne Utopien ebenso wie für großen Schwachsinn.

Entscheidend war die Mitte, die sorgte dafür, dass die Scheibe im Lot blieb. Sie schlingerte zwar immer mal wieder, wenn es an den Rändern zu einer allzugroßen Unwucht kam, aber am Beispiel der Grünen lässt sich gut aufzeigen, wie sich so eine Gewichtsverlagerung der allgemeinen Stabilität geschuldet langsam zur Mitte hin bewegte. Entgegengesetzte Fliehkräfte. Oder politischer ausgedrückt: Eine Entradikalisierung. Um nun aber vom äußeren Rand zur Mitte zu gelangen, muss es diesen Platz am Rand erst einmal geben. Um im Bild zu bleiben: Wenn der Rand nicht besetzt ist, rotiert alles einfach immer schneller um die Mitte. Das ist Ende der Vielfalt. Demokratie im Standmixer.

„Ohne Umwege über den Linkssozialismus wäre ich kaum der geworden, der ich bin“, schrieb Willy Brandt 1989 in seinen „Erinnerungen“. Und ein Juso-Spruch lautete: „Wer mit 20 nicht revolutionär, ist mit 50 reaktionär.“ Beide Zitate basieren auf der Erkenntnis, dass Demokratie, das die Vielfalt der Auffassungen eine Wertschätzung verdient haben. Und das ihnen eine Aufgabe zukommt, die für unsere Demokratie unerlässlich ist.

Nun ist der Versuch, die Ränder dieser Demokratie zu beschneiden nichts Neues. Sie ist sogar zyklisch: Mal trifft es die radikale Linke, die von Verboten und Drangsalierungen betroffen ist, wie in den Jahrzehnten des Kalten Krieges, aktuell ist es wieder die radikale oder sogenannte „Neue Rechte“, die ja nicht neu ist, sondern lediglich die alte Rechte, die auf neue bzw. erschwerte Bedingungen trifft und sich am Rand aufgestellt hat. Nicht umsonst haben unsere Verfassungsväter dort am Rand besagte stabile Reling aufgebaut. Sogar als Aufforderung sich anzulehnen. Als Stütze. Erst wer darüber hinwegklettert, fällt tief. Es braucht also keine verengende Bannmeile vor diesem Abgrund. Weit vor dieser Reling.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse müssen einfach immer neu erstritten, von radikalen Auffassungen in Frage gestellt werden. Nur so kann uns ihr Wert bewusst werden. Das müssen wir endlich wieder aushalten lernen. Wir brauchen wieder diesen Marktplatz der Überzeugungen. Mögen Sie noch so waghalsig sein. Denn wenn wir alles, das uns unbequem erscheint, leichtfertig stigmatisieren, verteufeln, machen wir Demokratie zur Farce. Zu einem Lippenbekenntnis. Zu einem stickigen Einparteienzelt in einer verlassen Luxusvilla voller Möglichkeiten. Zum Totentanz in der Villa democrazia.




GASTSPIEL: Julie Lenarz über Erdogans Doppelspiel im Nahen Osten

„Uns wurde gesagt: An der Grenze spazieren türkische Soldaten, und die würden auch, wenn die euch sehen, abfeuern. Aber ihr braucht keine Angst zu haben, weil die schießen nur nach oben. Die wissen, wer ihr seid und die sind dabei.“ Diese vielsagende Aussage von Ebrahim B., ein vor kurzem aus Syrien zurückgekehrter Deutscher, ehemaliger Kämpfer für den Islamischen Staat, bestätigt den Verdacht, den viele Entscheidungsträger und Geheimdienstler im Westen schon lange hegen: Die türkische Regierung verschließt die Augen vor ausländischen Extremisten, die über die Türkei nach Syrien reisen. Sie hoffen, dass diese die kurdische Opposition schwächen und das Assad-Regime zu Fall bringen.

Die Türkei war zwar mit dabei, als die USA auf einem Sondergipfel im vergangenen Jahr eine Anti-IS Koalition bildete, weigerte sich jedoch – im Gegensatz zu Repräsentanten aus Saudi Arabien, Ägypten, Jordanien, dem Libanon, Kuwait, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten – sich offiziell an der militärischen Kampagne zu beteiligen. Mit der zweitstärksten Armee in der Region hätte die Türkei wesentlich dazu beitragen können, dem Islamischen Staat ein endgültiges Ende zu bereiten. Jedoch änderte sich Ankaras Kalkül erst, als der Islamische Staat im Distrikt von Suruç ein verheerendes Selbstmordattentat verübte. Erst dann erlaubte die Erdogan-Regierung dem Verbündeten USA erstmals, den türkischen Stützpunkt Incirlik für Dronenangriffe in Syrien zu nutzen.

Erdogans Regierung hat wenig dazu beigetragen, den Zustrom von ausländischen Rekruten zu stoppen. Die Türkei wurde zum „Highway of Jihad“ für all jene, die sich dem Islamischen Staat oder anderen extremistischen Organisationen in Syrien anschließen wollen. Es mangelt nicht an Beweisen, um die anhaltende Unterstützung von sunnitischen Extremisten wie Ahrar ash-Sham und der Jaish al-Fatah Allianz durch die Türkei zu belegen – eine Politik die letztendlich nur ein Ziel hat: die Kurden zu schwächen und das Assad Regime zu stürzen. Die vorwiegend salafistische Rebellengruppe Ahrar ash-Sham wurde 2011 in Nordsyrien gegründet und pflegt enge Verbindungen zu Al Kaida und deren Verbündeten Jabhat al-Nusra. Während westliche Regierungen jegliche Kollaboration ablehnen, unterstützt die Türkei die Ahrar ash-Sham mit Geld und Waffen. Ebenso die erst kürzlich gegründete Jaish al-Fatah, der sowohl Ahrar ash-Sham als auch Jabhat al-Nusra angehören.

Allerdings unterhält die Türkei keinesfalls Verbindungen zu allen Rebellengruppen, sondern nur zu jenen, die Erdogans Vision der Post-Assad-Ära teilen. Der Freien Syrischen Armee, einer größtenteils säkularen nationalistische Gruppe, wurde die kalte Schulter gezeigt zu Gunsten von extremistischen Rebellen, einschließlich Islamischer Staat. Ein USB-Stick, den Behörden nach dem Tod von Abu Sayyaf, Direktor des Islamischen Staats für Öl und Gas in Syrien, sicherstellten, beinhaltet angeblich „klare“ und „unbestreitbare“ Beweise für finanzielle Unterstützung, Waffenschmuggel und illegale Öl- und Antik-Geschäfte zwischen der Türkei und der Terrororganisation. Ein hochrangiger westlicher Diplomat spekulierte sogar, dass diese Erkenntnisse „tiefgreifende politische Implikationen für die Beziehungen zwischen uns und Ankara“ haben könnten.
Die Türkei bekam die Konsequenzen ihrer „Höre-nichts-sehe-nichts“-Politik zu spüren, als der Islamische Staat im Distrikt von Suruç das Selbstmordattentat verübte, das 32 Menschen das Leben kostete und viele mehr verletzte. Innerhalb weniger Tage wurden Anti-Terror-Razzien im ganzen Land angeordnet und Luftangriffe gegen den Islamischen Staat in Syrien und im Irak geflogen. Zu behaupten, die Türkei hätte der Terrororganisation nun endgültig dem Kampf erklärt, wäre aber zu voreilig. Obwohl Erdogan die Vergeltungsschläge als nationale Kampagne gegen Terrorismus jeder Art propagiert, spricht sein Handeln eine andere Sprache. Von den 984 Verdächtigen, die bis zum 29 Juli festgenommen wurden, gehören 847 der PKK und nur 137 dem Islamischen Staat an. Zudem wurden viele Sympathisanten der Islamisten schon nach einigen Stunden wieder entlassen; angeblich aus Mangel an Beweisen. Auch die Luftangriffe der türkischen Armee trafen die PKK deutlich intensiver, als den Islamischen Staat. Während die Offensive gegen die Islamisten nur langsam und sporadisch vorangeht, verlor die PKK schon über 260 Kämpfer in der ersten Woche der Angriffe.

Die Politik der Türkei kann nur im Zusammenhang mit der Wahl im Juni verstanden werden. Erdogans Traum von einer neuen Verfassung war durch die Wähler ein abruptes Ende bereitet worden. Für ihn erfüllen demokratische Wahlen nur einen Zweck: seine Macht auszubauen. Demokratie ist nur so lange erwünscht, wie sie das erhoffte Ergebnis bringt. Zwar ging Erdogans AKP Partei wieder als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor, erlitt aber erhebliche Verluste und muss nun zum ersten Mal seit 13 Jahren einen Koalitionspartner zur Regierungsbildung finden. Mit 12 Prozent der Stimmen war es ausgerechnet die pro-Kurdische HDP Partei, die Erdogans AKP die Mehrheit kostete. Die Unterstützung für seine Partei hatte in kurdischen Kreisen über viele Monate stetig nachgelassen und nahm massiv ab, nachdem der IS mit der Belagerung der kurdischen Stadt Kobane an der türkisch-syrischen Grenze begonnen hatte. Die Türkei sah gelassen zu, wie die Islamisten kurdische Zivilisten abschlachteten und versklavten und behinderte obendrein lange Zeit die dringend erforderliche militärische Verstärkung. Der gegenseitige Vertrauensverlust und der bittere Nachgeschmack der Wahl haben den ohnehin fragilen Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der PKK endgültig zerschlagen.

Erdogans Antwort auf die Krise lautet: Krieg. In Zeiten von Chaos und Terror stellen sich die Menschen bekanntlich hinter ihre Regierung. Selahattin Demirtaş, dem Vorsitzenden der HDP, hat man nun die Immunität aufgehoben und angebliche Verbindungen zwischen seiner Partei und der PKK werden nun von einem Untersuchungsausschuss geprüft. Im Falle einer erzwungenen Auflösung der HDP könnte Erdogan das letzte Hindernis auf dem Weg zu einer allmächtigen Präsidentschaft ein für alle Mal aus dem Weg räumen, bei Neuwahlen die schon im Oktober oder November diesen Jahres stattfinden sollen.

Die IS-Politik der Türkei bleibt weiterhin dubios, undurchsichtig und komplex und dient vor allem der Schwächung der kurdischen Opposition in der Türkei und an der türkisch-syrischen Grenze, mit potentiell weitreichenden Folgen für die türkische Demokratie. Die USA und ihre Verbündete wären gut beraten, ihre Position zu überdenken, bevor sie sich auf die Seite eines Landes stellen, welches einen kurdischen Staat scheinbar mehr fürchtet als den Islamischen Staat.

Julie Lenarz arbeitet als politische Beraterin und leitet das Human Security Centre (HSC) in London. Sie ist spezialisiert auf den Nahen Osten, Terrorismus, Islamismus und religiöse Verfolgung. Twitter:@MsIntervention




GASTSPIEL: Heinrich Schmitz* über den Rechtsstaat, der an Akzeptanz verliert

Obwohl ich in meiner Kolumne bei „The European“ immer wieder Fehler und Fehlentwicklungen innerhalb der Justiz kritisiert habe, mag ich unseren Rechtsstaat. Ich behaupte sogar, dass es einer der besten auf der Welt ist und auf jeden Fall der beste, den Deutschland je hatte. Alleine die Möglichkeit, diesen Rechtsstaat zu kritisieren, ohne dafür für längere Zeit in einem Lager zu verschwinden oder 1.000 Peitschenhiebe zu kassieren, ist was Feines. Das geht außerhalb Europas lange nicht überall. Und trotzdem wird das Gemecker über den deutschen Rechtsstaat im Allgemeinen und die Justiz in Speziellen immer lauter.

Nun sind Meckern und Maulen, Unzufriedenheit und schlechte Laune schon immer gern gehegte „deutsche Werte“ gewesen, gleichwohl habe ich zumindest das Gefühl, das Image des Rechtsstaats war selten so schlecht wie heute. Da mögen tatsächliche Mängel, wie überlange Verfahren infolge einer erheblichen Unterbesetzung von Richter- und Staatsanwaltsstellen eine Rolle spielen, viel gefährlicher scheint mir aber ein grundsätzliches Abwenden vieler Bürger vom Rechtssystem zu sein. Leider wird dies von diversen Politikern auf verschiedene Weise auch noch gefördert. Das Grundgesetz scheint beim Entwurf und der Verabschiedung neuer Gesetze nicht mehr wirklich ernst genommen zu werden. Da werden Projekte wie das Betreuungsgeld oder die Maut aus parteipolitischen Gründen im Eilgang durch die Gesetzgebungsmaschine gejagt, ohne sich vorher über den verfassungsmäßig richtigen Weg oder Inhalt ernsthafte Gedanken zu machen. Und wenn die Juristen des Parlaments Bedenken anmelden, werden diese locker vom Tisch gefegt. Das mag ja machtpolitisch ganz lustig sein, es ist aber gefährlich.

Und wenn dann das Bundesverfassungsgericht völlig zu Recht die Reißleine zieht und wieder mal die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststellt, dann gehen die beteiligten Politiker nicht etwa in sich, stellen fest, das ihre Macht in einem Rechtsstaat nicht unbegrenzt ist und entschuldigen sich für ihr unüberlegtes Vorpreschen – Nein, die prügeln dann lieber verbal auf das Verfassungsgericht ein und fordern, dessen Macht zu begrenzen. Wenn sogar Bundestagspräsident Lammert (CDU) da munter mitmischt, warum soll dann nicht auch neben dem Gröl-Pöbel auf der Straße irgendwann der ganz normale Bürger gegen die Gerichte hetzen? Es mag ja ärgerlich sein, wenn man als Parlamentarier mal wieder dabei ertappt wurde, ein verfassungswidriges Gesetz durchgewunken zu haben, aber das sollte einen nicht dazu veranlassen, mit pampigen Reaktionen ein Feuerchen zu entfachen, das man irgendwann nicht mehr gelöscht bekommt.

Es gibt natürlich auch ganz clever eingefädelte Propaganda, die die Bürger ganz gezielt gegen den Rechtsstaat aufhetzen soll. Die kommt einmal von Menschen, die lieber einen Rechts-Staat als einen Rechtsstaat hätten. Da wird Härte gegen Kriminelle und noch mehr Härte gegen kriminelle Ausländer gefordert – oder der Einfachheit halber gegen alle Ausländer. Da wird „Kuscheljustiz“ angeprangert und unverhohlen nach der Todesstrafe z.B. für „Kinderschänder“ gerufen. Und das Schlimme ist, dass da nicht nur die offen staatsfeindliche NPD aktiv ist, sondern auch ganz normale Muttis, die sich brav zu Hause um die Kinder kümmern und jeden Sonntag in die Kirche rennen.

Auf der anderen Seite des Spektrums wird die Justiz als rassistisch, faschistisch und was auch immer geschmäht. All Cops Are Bastards usw. Rechts und Links tun sich nicht viel in der Ablehnung des Rechtsstaats. Und wie es aussieht, wird die Mitte von beiden Rändern her immer dünner. Extreme Positionen werden gesellschaftsfähig. Kritik am Rechtsstaat als Stimmenfang. Wen interessieren schon Fakten über die Justiz, wenn man meint, mit etwas „gesundem Menschenverstand“ ließe sich nicht nur alles verstehen, sondern auch noch die „Wahrheit“ erkennen?

Der Rechtsstaat hat’s nicht leicht. Er kann nicht einfach mal zurück pöbeln. Er ist an Recht und Gesetz gebunden. Das ist auch gut so.

Der 57-jährige Jurist Heinrich Schmitz arbeitet als Strafverteidiger und war Kolumnist bei The European. Er hat das zweite Staatsexamen in Düsseldorf absolviert und führt seit 1987 in Euskirchen zusammen mit einem Partner eine Anwaltskanzlei. Bundesweit bekannt wurde er durch Fernsehauftritte unter anderem in Spiegel TV. Schmitz ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. *Nach Beleidigungen und üblem Mobbing gegen sich und seine Familie hat Schmitz vor wenigen Wochen öffentlich erklärt, nicht mehr politisch publizieren zu wollen. Da war dieser Text bereits geschrieben, und wir sind ihm dankbar, dass wir die Genehmigung erhalten haben, den Beitrag noch zu drucken.




GASTSPIEL: Felix Honekamp über eine Kirche auf dem Weg in die Beliebigkeit

Über Jesus regt sich doch schon lange keiner mehr auf! Wie anders war da die Situation vor rund 2000 Jahren, als religiöses Establishment und staatliche Macht in der Botschaft von Glauben, Hoffnung und Liebe noch umstürzlerische Tendenzen vermutete? Jesus hat seinen Aposteln den Auftrag gegeben, die Kirche aufzubauen, mit ihm selbst als Fundament. Und nicht wenige meinen, eine Kirche wie die, die wir heute sehen – als katholische –, hätte er vermutlich nicht gemeint.

Dabei fehlt es nicht an guten Ratschlägen: Offener müsse die Kirche sein, mehr Liebe müsse sein, vor allem gegenüber den Sündern. Überhaupt: Sündenzentrierung ist ein immerwährender Vorwurf. Und wenn wir schon mal dabei sind: Sexualität – wenn es mal etwas gibt, an dem die Zeit vorbeigegangen ist, dann die Moralvorstellungen der Kirche in diesem Thema. Weitere Reizthemen gefällig? Ablehnung von Frauen als Priestern, Zölibat, Eheverständnis, Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. Würde man nur endlich all das umsetzen, was Reformer vor Augen haben, dann hätte man die von Jesus gewünschte Kirche, dann wäre sie wahrhaft revolutionär.

Dabei müht man sich innerkirchlich gewaltig, gerade in Deutschland: Man sei hier ja schon viel weiter, müsse aber – leider, leider – den Rest der Weltkirche auch „mitnehmen“. In der Pastoral will man andere Wege gehen, unabhängig von Rom werden, mehr auf den Sünder zugehen, die Menschen dort abholen wo sie stehen, sie nicht überfordern. Und mit einem Auge schielt man dabei auf die evangelischen Landeskirchen, die viel von dem geforderten bereits umgesetzt haben. Immerhin haben sie es damit – trotz Mitgliederimplosion – erreicht, dass evangelische Bischöfe in Talkshows auch bei privaten Eskapaden als gesellschaftliches Gewissen fungieren dürfen – ihre Fehler machen sie ja gerade menschlich.

Die katholische Kirche müsse wieder Gehör finden, und darum müsse man die Sprache der Menschen sprechen, sich an ihrer „Lebenswirklichkeit“ orientieren. Daran, dass jede zweite oder dritte Ehe – je nach Statistik – geschieden wird? Daran, dass niemand mehr etwas anstößiges daran findet, die eigene Sexualität zum Politikum zu stilisieren? Und wenn jemand etwas nicht mehr als Sünde zu erkennen in der Lage ist – na, dann ist er doch unmöglich schuldig geworden. Der Geist der Zeit – so heißt es sogar von Bischöfen – müsse zur Quelle des Glaubens werden. Was nichts anderes heißt als: Die Kirche muss auf die Welt zugehen. Eine andere, nicht so gern verwendete Formulierung: Sie muss sich an die Welt anpassen.
Auf diesen Weg wird die Kirche gedrängt – sie lässt sich aber in weiten Teilen auch nicht lange bitten. In der verzweifelten Suche nach Relevanz werden strittige Themen und Widersprüche zum Zeitgeist geschleift und relativiert. Niemanden zurückzulassen bedeutet plötzlich, den Anspruch an die Menschen zu senken, statt ihnen zu zeigen, wie sie über sich hinaus wachsen können.

Und dann, was steht am Ende dieses Weges? Eine von der Welt geliebte Kirche. Wie wunderbar! Aber auch eine Kirche, die keine Widerworte gibt, keine Gegenwehr leistet, eine Kirche, deren Botschaften man so auch im Spiegel und der BILD lesen oder in Tagesthemen oder den RTL-II-News hören könnte. Eine Kirche, die kein Stein des Anstoßes mehr ist, an der sich niemand mehr reiben muss – so wie Jesus sich seine Kirche gewünscht hätte. Wirklich? Eine solche Kirche wird in Wahrheit nicht geliebt: Sie ist höchstens nützlich, wahrscheinlicher aber einfach unnötig. Eine Kirche, die kein Aufsehen erregt – wer braucht so eine Kirche noch? Wenn heute manche meinen, Jesus rege niemanden mehr auf, dann ist es wohl lediglich das Bild der Kirche, das die Menschen von Tag zu Tag, bis auf ein paar Details, mehr kalt lässt. Und sie arbeitet hart daran, dass das so bleibt. So eine Kirche soll Jesus vor Augen gehabt haben? Wenn die Kirche überall geliebt wird oder der Mehrheit egal ist, dann können wir sie zusperren. So lange katholische Positionen noch einen Aufschrei verursachen ist sicher: Diese Kirche wird noch gebraucht!

Felix Honekamp, Jahrgang 1970, ist ausgebildeter Diplombetriebswirt. Er bezeichnet sich selbst als konservativ, papsttreu und „strunzkatholisch“. Seit 2011 betreibt er seinen „Papsttreuen Blog“, in dem er sich intensiv mit theologischen Fragen und Kirche beschäftigt. Mehr unter: http://papsttreuerblog.de




GASTSPIEL: Andreas Unterberger über Erfolgsgeschichten in der Euro-Krise

Europa hat in den letzten sieben Jahren zu einseitig auf Griechenland geschaut. Dadurch hat es die viel wichtigere Lektion dieser Jahre übersehen: Austeritätspolitik, Sparen, Sanieren, Reformieren wirkt. Dieser Kurs ist mühsam, dauert einige Jahre, aber er wirkt im Gegensatz zu jenen Rezepten, die alles Unangenehme vermeiden und ein Land durch immer noch mehr neue Schulden aus dem Sumpf ziehen wollen. Diese Rezepte haben total versagt, sie klingen maximal in realitätsfernen Hörsälen oder in ORF-Kommentaren gut, haben aber nie in der Realität bestanden.

Das haben sie auch im Amerika der 30er Jahre nicht, also beim einzigen Beispiel, das keynesianische Theoretiker immer wieder aus der historischen Kiste holen . Denn Amerikas Wirtschaft ist erst durch den Ausbruch des Weltkriegs und die riesigen Rüstungsaufträge für die Verbündeten wieder in Schwung gekommen. Und nicht durch den von manchen Linken ähnlich der Oktoberrevolution zum Mythos erhobenen „New Deal“.

Spanien, Portugal, Irland haben nicht auf die Wunschdenken-Propheten a la Varoufakis oder Tsipras, Muhm oder Schulmeister gehört. Sie sind dafür heute die große Erfolgsstory.

In Irland ist die Staatsverschuldung im letzten Jahr von 124 auf 110 Prozent des BIP zurückgegangen. Das Land hat ein Wachstum von 4,8 Prozent erreicht – ein Wert, dem Österreich seit vielen Jahren nicht einmal im Traum nahegekommen ist. Und wer sagt, dass das nichts heiße, weil Irland 2009 ja um 6,4 Prozent geschrumpft sei, der sollte aber auch dazusagen, dass das Land bis 2007 alljährlich um rund fünf Prozent gewachsen ist, und vor der Jahrestausendwende etliche Jahre sogar um rund zehn Prozent.

Auch Portugal ist am trockenen Ufer; es zahlt Kredite sogar schon vorzeitig zurück. Ebenso erfreulich ist Spanien: Dort ist das Wirtschaftswachstum bei 3,3 Prozent angekommen. 70 Prozent der Unternehmen vergrößern jetzt wieder ihre Belegschaft und investieren. die Arbeitslosigkeit hat den niedrigsten Stand der letzten fünf Jahre erreicht.

Gewiss waren das harte Jahre. Gewiss hat auch der niedrige Ölpreis geholfen. Gewiss ist überall noch viel der hohen Arbeitslosigkeit abzubauen. Gewiss droht die Aussicht, dass die Wähler die erfolgreichen Regierungen wieder abwählen – wie es schon in vielen Ländern passiert ist. Aber die Richtung und vor allem die Stimmung ist zufriedenstellend. Und diese ist in der Wirtschaft genauso wichtig wie harte Daten.

Genauso wichtig war eben auch das richtige Verhalten während der Krise. So schwer es Politikern auch fällt: Aber man muss Krisen wirken lassen. Nur wenn man zulässt, dass dauerhaft fußmarode Firmen oder Unternehmsteile sterben, und wenn man sie nicht auf Kosten aller anderen durchfüttert und ihretwegen ganze Nationen schwer verschuldet, kann neues, kräftigeres Wirtschaftsleben entstehen.

Das hat als erster der große – im Ausland freilich viel mehr geschätzte – österreichische Ökonom Joseph Schumpeter beschrieben. Er nannte es „kreative Zerstörung“.

Der Österreicher Andreas Unterberger war Chefredakteur der Presse und der Wiener Zeitung und schreibt heute den meistgelesenen und wichtigsten liberal-konservativen Blog im Nachbarland. Er ist Vorstandsmitglied des Hayek Instituts und des Clubs unabhängiger Liberaler. Für seine journalistischen Leistungen wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Östereichischen Staatspreis. Seine Beiträge veröffentlicht er regelmäßig unter http://www.andreas-unterberger.at .




GASTSPIEL: Birgit Kelle über die Pervertierung von „Frauenrechten“

„Gut gemeint, schlecht gemacht“, so lautet ein gemeines Sprichwort. Diesen Grundsatz hat sich jetzt auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) auf die Fahnen geschrieben mit der Forderung nach der weltweiten Legalisierung von Prostitution. Gut gemeint, denn die Generalsekretärin von Amnesty, Salil Shetty, merkt zu Recht an, dass Prostituierte in den meisten Fällen „ständig dem Risiko von Diskriminierung, Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sind“. Deswegen wolle man eine Politik verfolgen, die den „Schutz der Menschenrechte von Prostituierten fordert“. Da wird man dann doch stutzig. Seit wann muss man kriminelle Handlungen legalisieren, um die Menschenrechte der Opfer zu wahren? Und helfe ich dem Opfer damit, dass ich die Tat legalisiere? Zumindest in Deutschland sieht die Polizei das jedenfalls anders. Seit Prostitution bei uns legal ist, haben die Beamten noch mehr Schwierigkeiten, den Opfern von Schlepperbanden zu helfen. Genaugenommen kommt sie ohne konkreten Verdacht gar nicht mehr an diese Frauen ran, weil unser wunderbares Gesetz beispielsweise Frauen, die in Privatwohnungen zwecks Zwangsprostitution festgehalten werden, nicht mehr schützt.

Gleichzeitig wird hier noch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, denn wer die Prostitution legalisiert, tut dies im gleichen Atemzug auch mit der Zuhälterei. Das wird sicher ein Freudenfest für Schlepper und Menschenhändler, wenn Zwangsprostitution weltweit gar nicht mehr existiert, weil qua Gesetz abgeschafft. Toll! So wird aus der Prostituierten nicht nur eine ganz normale Berufstätige mit Krankenversicherung und gewerkschaftlicher Vertretung wie etwa in Deutschland bei verdi mit dem eigenen Arbeitskreis „Besondere Dienstleistungen“. Der Zuhälter erhält also den Status eines Jobvermittlers mit Provisionszahlung. Und besonders sind diese Dienstleistungen allemal, glaubt man zumindest den Werbeanzeigen mancher Flatrate-Bordelle, die seit der Legalisierung in Deutschland aus dem Boden sprießen und analog zum all-you-can-eat an sommerlichen Standbuffets das „all-you-can-fuck“ zum Pauschalpreis anbieten.

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ sieht das ganz anders als ich und stellt die Frage „Ist es wirklich ein so großer Unterschied, ob jemand seinen Körper in der Altenpflege oder auf dem Bau kaputtarbeitet oder denselben Körper für sexuelle Handlungen zur Verfügung stellt? In welchem Jahrhundert leben wir, dass wir Sexualität noch immer mit anderen Maßstäben messen?“ Nun liebe „Zeit“ wir leben im 21. Jahrhundert, und ja, „nuttig“ ist auf deutschen Schulhöfen immer noch ein Schimpfwort unter Jugendlichen, gerne gebraucht gerade auch von Mädchen gegenüber anderen Mädchen. Vermutlich steht das Wort „nuttig“ und auch „Schlampe“ längst auf dem Sexismus-Index. Denn obwohl weltweit feministische Gruppe zu sogenannten „Slutwalks“ (Schlampenläufen) aufrufen, bei denen Sie dann halbnackt durch die Straßen laufen und für das Recht kämpfen, wie Schlampen herumzulaufen zu dürfen, ist immer noch der Teufel los, wenn man eine derselben Damen dann auch entsprechend als solche bezeichnet. Merke: Wenn eine Frau sich das Wort „Schlampe“ auf die nackten Brüste malt, ist das ein emanzipatorischer Akt. Bezeichnet man sie als solche, ist es Sexismus. Anscheinend haben die jugendlichen Mädchen aber auch heute immer noch ein recht gutes Gespür dafür, wie offenherzig und schlampig zu unterscheiden sei. Und als Mutter zweier Töchter bin ich ganz froh darüber.

Doch zurück zu der Frage der „Zeit“, ist es denn so ein Unterschied, ob man sich mit seiner Arbeitskraft bei schlechter Bezahlung auf dem Bau „prostituiert“ oder seinen Körper zum Sexualakt zur Verfügung stellt? Seit die Frage der Ausgestaltung eines Bordells für manche Streiter einer „sexuellen Vielfalt“ auch zum allgemeinen Unterrichtsstoff für Jugendliche gehören sollte, eine nicht unberechtigte Frage. Von manchen habe ich zudem in meiner politischen Arbeit bereits das Argument gehört, Hausfrauen seien schließlich auch nichts anderes als Prostituierte, sie lassen sich für Dienstleistungen und Liebenswürdigkeiten von einem Mann bezahlen. Na siehste! Der Unterschied ist nur, dass Hausfrauen nicht an der Straße stehen, sondern gemeinhin vermutet, hinterm Herd. In Sachen Hausfrau plädiere ich immer auf freie Entscheidung der Frau, weil ich mir nicht von anderen Frauen oder sonst jemandem erklären lassen will, was gut oder schlecht für mich ist. Es stellt sich also die nicht unberechtigte Frage, mit welchem Recht wir Frauen verbieten wollen, ihre Sexualität zu verkaufen. Tatsächlich gibt es doch auch diejenigen, die vorgeben, es freiwillig und gerne zu tun. Analog kann man übrigens auch die Kopftuch-Debatte in Bezug auf muslimische Frauen führen.

Nun bin ich ja selten mit Alice Schwarzer einig, aber in Sache Prostitution stehen wir auf derselben Seite. Ich kann und will mich nicht daran gewöhnen, dass es ein normaler Job ist, auch wenn Begriffe wie „Blow-Job“ so manchen möglicherweise dazu verleiten. Ich glaube nicht an die glückliche Prostituierte, dafür tun es weltweit zu viele Frauen unter Zwang und Androhung von Gewalt gegen sich selbst oder gar gegen ihre Familien. Ich kann der Rotlicht-Romantik des angeblich ältesten „Gewerbes“ der Welt nichts abgewinnen, seit ich als 20-Jährige nachts in Amsterdam die rot beleuchteten Schaukästen bestückt mit lebender Ware gesehen habe, an denen das Publikum gaffend vorbeizieht. Gerne würde ich mit den Kollegen von der „Zeit“ einmal die Frage diskutieren, ob es für sie auch in Ordnung wäre, wenn diese Dienstleistung, dieser „Job“, der doch so normal sein soll wie Krankenpflegerin und Arbeit auf dem Bau, künftig über die Agentur für Arbeit vermittelt wird. Dagegen dürfte dann doch wohl nichts sprechen und selbst ungelernte Kräfte bekommen da sicher viele Stellenangebote inklusive Mindestlohn. Darf man als arbeitslose Frau dann noch ablehnen, oder gilt diese „Arbeit“ dann als genauso „zumutbar“ wie Laubfegen im Park?

Von der Ausbeutung der Sexualität einer Frau ist es übrigens nur ein kleiner Schritt zur Ausbeutung der Fruchtbarkeit einer Frau. Wenn ich meine Vagina zur Verfügung stellen darf, warum nicht meine Gebärmutter? Auch hier wird gerne darauf verwiesen, dass diese Frauen es doch freiwillig tun und damit sogar gutes Geld verdienten. Bislang floriert der Markt vor allem in Asien und Indien, die Debatte wird aber genauso Deutschland erreichen. Nicht wenige Frauen in Indien verkaufen ihren Körper als Brutstätte, verkaufen ihre Kinder, um die restliche Kinderschar zu Hause durchzubringen. Freiwillig? Oder aus der Not heraus, weil sie vor lauter Armut keinen anderen Weg sehen. Und da sind wir dann wieder bei der „Zeit“, die im gleichen Artikel noch anmerkt, „in vielen Ländern bleibt Prostitution insbesondere für „Transpersonen und offen schwule Männer“ die einzig mögliche Einkommensquelle, weil sie auf dem legalen Arbeitsmarkt diskriminiert werden.“ Man könnte nicht deutlicher ausdrücken, dass es eben nicht freiwillig ist, sondern aus der Not heraus. Wäre es nicht angebracht, dass wir weltweit dafür sorgen, dass sich niemand mehr genötigt fühlt, seinen Körper zu verkaufen, weil er sonst kein Einkommen hat, anstatt diese Tätigkeit zu einem „normalen Job“ zu erklären?

In Sachen Leihmutterschaft, die zusammengefasst nichts weiter ist als ein moderner Menschenhandel – ich bestelle und bezahle ein Kind und hole es dann ab – teilt sich das feministische Lager übrigens. Diejenigen, die bei Prostitution noch laut Ausbeutung schreien, sind seltsam still bei der Leihmutterschaft. Schließlich ist man im Dilemma: Man kann nicht auf der einen Seite für sexuelle Vielfalt kämpfen und dann empört sein, wenn sich zahlreiche homosexuelle Paare in Indien ein Kind kaufen – wie es nachweislich geschieht. Es ist kein neuer Kurs bei Amnesty International, dass die Rechte von Frauen ganz eigen definiert werden, diesmal regt sich weltweit nur mehr Widerstand. Als Amnesty International vor einigen Jahren begann, „Abtreibung“ als Frauenrecht zu propagieren, waren die prominenten Schauspielerinnen wie Meryl Streep, Emma Thompson oder Kate Winslet, die jetzt gegen die Legalisierung der Prostitution richtigerweise protestieren, nicht mit von der Partie. Liest man sich die Argumentation von Amnesty International damals durch, ist es aber ähnlich schizophren wie im aktuellen Beschluss.

So hatte man einst in der Abteilung „Menschenrechtsverletzungen an Frauen“ (MAF) die Kampagne „Mutter werden, ohne zu sterben“ ins Leben gerufen. Klingt wunderbar, denn in der Tat ist die Müttersterblichkeit gerade in den Ländern der Dritten Welt extrem hoch. Hauptgrund hierfür ist die mangelhafte medizinische Versorgung der Schwangeren und Gebärenden. Die Forderung von Amnesty beschränkt sich zu diesem Problem aber eben nicht nur darauf, dann bitteschön dafür zu sorgen, dass die medizinische Versorgung von Müttern und werdenden Müttern endlich weltweit gewährleistet werden muss, sondern auch in der Forderung nach Zugang zu legaler Abtreibung weltweit. Das Recht, sein eigenes, ungeborenes Kind zu töten, als Frauenrecht. Das aus dem Mund einer Menschenrechtsorganisation. Wann genau hat man bei Amnesty eigentlich aufgehört, Kinder als Menschen zu betrachten? Abtreibung also als Lösung gegen das Problem „Müttersterblichkeit“. Anstatt als Mutter zu sterben, wird man besser gar nicht mehr Mutter, das macht sich super in den Müttersterblichkeits-Statistiken, denn logisch: Wer die Schwangerschaft abbricht, kann nicht während der Geburt sterben. Lieber tötet man vorher das Kind, das taucht in keiner Statistik auf. Konsequent ist man aber bei Amnesty, man fordert auch medizinisch einwandfreie Abtreibungen, nicht dass die Mütter dann statt in der Geburt bei der Abtreibung zu Tode kommen. Wieviel Zynismus braucht man eigentlich, um so zu argumentieren?

Bleibt am Ende das Fazit, wir Frauen bekommen immer mehr Rechte dazu und alle meinen es unglaublich gut mit uns. Wir dürfen uns heute Schlampen nennen und uns dabei emanzipiert fühlen, wir dürfen uns am Arbeitsmarkt abschuften zu unserer Emanzipation, wir dürfen unsere Kinder abgeben, damit sie bei der Selbstverwirklichung nicht stören. Ja wir dürfen gar unsere Kinder töten, als Frauenrecht, wir dürfen unsere Sexualität verkaufen, als Frauenrecht, wir dürfen unsere Kinder verkaufen, als Frauenrecht. Nur eines dürfen wir nicht: All diese „Errungenschaften“ ablehnen, dann sind wir nämlich Antifeministinnen. Das bin ich dann allerdings gerne.