Nein, die letzten Meter eines Lebens sind nicht schön

Vorgestern war ich in Spandau mit einer langjährigen Kollegin nach der Arbeit noch eine Kleinigkeit essen. Irgendwie kamen wir auf das Thema Sterben im Pflegeheim, und wir erzählten uns gegenseitig, wie dort die Realität ist. Und wie Menschen, die Zeit ihre Lebens aktiv in Beruf oder gesellschaftlichem Engagement waren, auf den letzten Metern ihre Lebens einfach verfallen und den Lebensmut verlieren.

Dabei ist das keine Kritik an den Pflegeheimen, viele der Pfleger(innen) leisten eine aufopferungsvolle Arbeit, oftmals unterbezahlt. Und es sind sehr oft Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, um hier besseres Geld zu verdienen.

Es fängt meistens damit an, wenn eine(r) der Senioren stürzt. So war es bei meiner Mutter, damals 92 Jahre. Einen Moment nicht aufgepasst, gestolpert in der Küche, als sie ihren Teller zur Spüle brachte. Sie stürzte, wir rannten hin, halfen ihr auf, setzten sie auf einen Stuhl, schauten, ob es eine Platzwunde gab, fragten, ob sie Schwindelgefühle verspüre. Es schien alles in Ordnung. Wir kochten ihr einen schwarzen englischen Tee, den sie so liebte. Es gab Kekse dazu.

In der Nachschau weiß ich, dass das im wahrsten Sinne des Wortes der erste Schritt auf die Zielgerade ihres Lebens gewesen ist. Wenige Wochen später passierte es erneut, wieder in der Küche. Dieses Mal mit Platzwunde am Kopf, mit Notarzt, zwei Tage zur Beobachtung ins Krankenhaus. Wir versuchten es noch weiter zu Hause, obwohl wir beide arbeiten und damals auch noch drei Kinder im Haus hatten, um die wir uns kümmern mussten.

Viele von Ihnen kennen diese Geschichten aus dem eigenen Erleben. Eine Pflegerin aus Osteuropa vom Malteser Hilfsdienst kam jeden Morgen zum Waschen und Anziehen.

Ich glaube, dass es den meisten alten Menschen unangenehm ist, wenn ihre Kinder das selbst machen.

Dann musste Waltraud eine ganze Woche ins Krankenhaus, meine Frau war unterwegs, ich hatte mordmäßig viel Arbeit und ging zur Ärztin. „Ist es möglich, dass meine Mutter noch bis Montag bei Ihnen bleiben kann“, fragte, ja bat ich. Es war möglich, auf dem kleinen Dienstweg.

Schließlich das Pflegeheim, nur acht Kilometer entfernt, jeden Tag fuhren wir zu ihr, tranken zusammen Kaffee, ich schob sie bei sonnigem Wetter mit dem Rollstuhl ein wenig draußen herum, nicht im Park, sondern auf dem Gehweg neben einer belebten zweispurigen Straße in Krefeld. Wenigstens raus, wenigstens Sonne.

Irgendwann schlief sie friedlich ein, allein. Als ich den Anruf erhielt, war ich in Berlin, ließ alles stehen und liegen und nahm den nächsten Flieger nach Düsseldorf. Ja, sie wurde betreut, ihre Familie war jeden Tag um sie herum. Einmal, eine Woche vor ihrem Tod, kamen Verwandte aus England zu Besuch. Sie hatten sich 30 Jahre nicht mehr gesehen. Meine Mutter konnte schon nicht mehr aufstehen. Sie hatten alte Schwarz-Weiß-Fotos dabei, es gab Butterkuchen. Es wurde nur geweint, meine Mutter, meine Tante, drei Töchter und am Schluss ich auch.

Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an? Schön, wenn es so ist, wie in diesem Lied von Udo Jürgens.

Und ja, mit 66 Jahren geht es dank der Schulmedizin vielen Senioren noch gut, viele arbeiten noch irgendwas, helfen im Büro der selbständigen Tochter oder belegen einen Golfkurs. Mit 66 Jahren geht es ihnen noch gut, den meisten, wenn sie nicht krank sind und ein gefülltes Konto haben. Und Angehörige, die sich um sie kümmern.

Im Pflegeheim meiner Mutter waren Menschen um die 80, die niemanden mehr hatten. Nie Besuch bekamen, aber jeden Tag Butterkuchen. An Karneval setzt man ihnen pinkfarbene Hüte auf und irgendein C-Movie-Alleinunterhalter singt was, dann geht es wieder ab ins Bett. Vorher nochmal zur Toilette.

Ich glaube, es ist nicht schön, als zu werden. Je älter man wird, desto weniger schön. Ich habe Ihnen hier erzählt von meiner Mutter, aber ich habe Freunde, die über ihre Erfahrungen Ähnliches erzählen. In einer Gesellschaft, in der familiärer Zuammenhalt immer weniger zu finden ist. In der die Masse funktionieren muss, um die Gasrechnungen und die Miete bezahlen zu können. Weihnachtsgeschenke für Kinder und Enkel heranschaffem.

Zumindest bei vielen Deutschen dürfte es im Alter ähnlich sein, die bewusst auf Kinder verzichtet haben, um sich in ihrer guten aktiven Zeiten selbst zu verwirklichen und viel zu reisen.

Wenn ich bei  Besuchen bei meiner Mutter das Heim verließ, dachte ich oft, obwohl sie liebevoll versorgt wurde und in guten Händen war: So möchte ich einmal nicht enden. Lieber irgendwann einfach umfallen und fertig.

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