Sigmar Gabriel hat es doch ganz gut gemacht
Wieso sind eigentlich drei Viertel aller Stimmen ein schlechtes Ergebnis? Eine Watsche? Mir sind Politiker nicht dann suspekt, wenn sie Gegenwind bekommen, sondern mir kommt es merkwürdig vor, wenn Politiker von allen geliebt werden. Das war schon früher so. Ich erinnere mich an eine CDU-Versammlung, Stadtverband, vor über 30 Jahren. Es war Vorstandswahl, und der wiedergewählte Vorsitzende erhielt 101 Stimmen von den 102 Answesenden. Und mein spontaner Gedanke war: Mit dem stimmt etwas nicht. Ein Politiker muss gestalten, muss Standpunkte vertreten und Widerstand aushalten. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, der vor wenigen Wochen gestorben ist, hat diese Erfahrung gemacht. Als Erfinder des NATO-Doppelbeschlusses von der eigenen Partei, der SPD, bedrängt und beschimpft. Unvergessen das Foto vom Parteitag, wo neben dem einsamen Kanzler noch ganze 12 Genossen mit trotzig emporgereckter Stimmkarte seiner Nachrüstungspolitik zustimmten. Die Geschichte hat Schmidt recht gegeben, und in den vergangenen Jahren lag ihm seine Partei, ja ein Großteil der Bevölkerung zu Füßen. Ein Elder Statesman, dessen Rat immer gefragt war. Bis zum Lebensende.
Nun ist Sigmar Gabriel nicht Helmut Schmidt, und ob er jemals Bundeskanzler wird, ist noch längst nicht entschieden. Aber man muss konstatieren, dass Gabriel deutlich an politischer Statur gewonnen hat. Er führt die SPD und hält den Laden zusammen. Schon vergessen, wie es vorher war? Engholm, Scharping, Platzeck, Beck? Dazwischen mal ein kleiner Putsch vom Oskar, der dann später eine andere Partei mitbegründet hat, um seine frühere SPD zu ärgern. Nein, unter Gabriel ist die SPD zur Ruhe gekommen, sie regiert im Bund mit und ist in vielen Bundesländern und den meisten Großstädten die führende Partei, auch wenn sie in Umfragen bundesweit bei 25 Prozent stagniert. Gabriel hat heute eine gute Rede gehalten, die weitgehend frei von ideologischem BlaBla blieb und sich an sachlichen Notwendigkeiten orientierte – sein Ja zu TTIP und zur Vorratsdatenspeicherung gehören dazu. Er hat der Versuchung widerstanden, seiner Partei, in der sich viele Mitglieder und Funktionäre wieder mehr linke Wohlfühl-Romantik wünschen, nach dem Mund zu reden. Dafür haben ihm einige einen Denkzettel verpasst. Na und?