GASTSPIEL PROF. BERND LUCKE: Ein Durchbruch – und ein Rechtsbruch?

Brüssel feiert einen historischen Tag. Nach hunderstündigem Marathon sei ein Durchbruch gelungen, melden die Zeitungen. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich auf einen gewaltigen „Corona-Wiederaufbaufonds“ geeinigt: 750 Milliarden Euro werden bewilligt, davon 390 Milliarden Euro als nicht rückzahlbare Zuschüsse. Finanziert werden soll das Ganze durch Schulden, die der EU-Haushalt auf dem Kapitalmarkt aufnimmt.

Wo liegt der Durchbruch? Angeblich in der Verständigung auf das riesige Volumen und dessen Aufteilung auf rückzahlbare und nicht rückzahlbare Hilfsgelder. Die EU erweise sich als handlungsfähig und tue „mit Wucht“ etwas gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie.

Da ist was Wahres dran. Zwar kann man zum Volumen und zur Verwendung der Gelder manches Fragezeichen setzen. Wie kommt es, dass Merkel und Macron 500 Milliarden Euro für nötig hielten, die Kommission aber 750 Mrd Euro? Sind das aus der Luft gegriffene Zahlen, oder hat man eine klare Vorstellung, wieviel man braucht und was man damit machen will? Schaffen wir möglicherweise eine neue Subventionsmentalität, aus der man sich später kaum wird befreien können?

Stellen wir das beiseite. Grundsätzlich ist unbestreitbar, dass die Mitgliedsstaaten der EU jetzt tief in die Tasche fassen müssen. Die Lockdowns waren staatlich verordnete Maßnahmen, die – aus völlig nachvollziehbaren Gründen verhängt – schwere wirtschaftliche Schäden verursacht haben. Unternehmer und Beschäftigte haben unverschuldet gravierende Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. In vielen Fällen ist das existenzbedrohend, obwohl die betroffenen Unternehmen vor dem Beginn der Pandemie wettbewerbsfähig waren. Wenn ein Staat gesunde Unternehmen hat straucheln lassen, muss er ihnen jetzt wieder aufhelfen. Gesundheitspolitik im weiteren Sinne, sozusagen.

So weit, so gut. Aber der eigentliche Durchbruch liegt woanders. Er liegt darin, dass die Rechtsgrundlagen der EU durchbrochen werden. Man bricht mit der jahrzehntelangen Übereinkunft, dass die EU zur Finanzierung ihres Haushalts keine Schulden aufnehmen darf. Damit umgeht man die im Maastricht-Vertrag festgelegte Begrenzung der Staatsschulden, die im Fiskalpakt festgelegte Verpflichtung zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt und die Beschränkungen der Schuldenbremsen in den nationalen Verfassungen. „Sieben auf einen Streich“, hätte das tapfere Schneiderlein gesagt. Wobei es inzwischen weit mehr als sieben nationale Schuldenbremsen gibt.

Der Punkt ist: Über Jahrzehnte hat die EU versucht, durch Gesetze und Verträge die Verschuldung ihrer Mitgliedsstaaten zu begrenzen und zu beschränken. Das hat summa summarum nicht gut geklappt und etliche Staaten liegen weit über den zulässigen Grenzen. Jetzt sagt die EU: Wenn sich die Mitgliedsstaaten nicht weiter verschulden können oder dürfen, dann verschuldet sich eben die EU. Denn alle Beschränkungen der Staatsverschuldung wurden immer nur für die Mitgliedsstaaten verhängt. Niemand hat im Traum daran gedacht, dass die EU selbst Schulden aufnehmen könnte.

Das hat seinen Grund: Die Verschuldung des EU-Haushalts ist in Artikel 310 und 311 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV-Vertrag) verboten. Es heißt in Artikel 310: „Der Haushaltsplan ist in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen.“ Da ist eigentlich schon klar, was gemeint ist. Aber spitzfindige Juristen könnten nun sagen: Der Verkauf einer Staatsanleihe (also die Verschuldung) ist auch eine Einnahme. Deshalb präzisiert Artikel 311: „Der Haushalt wird unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln finanziert.“ Schulden sind Fremdkapital, nicht Eigenmittel. Der Verkauf von Staatsanleihen erzeugt Einnahmen, aber nicht Eigenmittel.

Damit ist die Sache eigentlich geklärt. Dachte man. Aber jetzt haben die Staats- und Regierungschefs sich darauf geeinigt, Ausgaben des EU-Haushalts (davon 390 Milliarden Euro nicht rückzahlbare Zuschüsse) über Kreditaufnahme zu finanzieren. Das ist der Durchbruch. Böse Zungen würden sagen: Der Rechtsbruch.

Ab heute kann der EU-Haushalt mit Schulden finanziert werden. Ein Narr, wer glaubte, dass man das nur einmal, jetzt, und nur wegen Corona macht. Die EU hat ein Tor weit aufgestoßen und wird alles daran setzen, dass es weit offen bleibt.

Damit sind alle Anstrengungen der vergangenden Jahre zur Begrenzung der Staatsschulden Makulatur. Denn natürlich sind die Schulden des EU-Haushalts indirekt Schulden der Mitgliedsstaaten. Alle Mitgliedsstaaten sind in der Pflicht, diese Schulden zurückzuzahlen .Wenn ein Mitgliedsstaat das nicht kann, haften alle anderen gesamtschuldnerisch. Damit ist die Schuldenvergemeinschaftung auf EU-Ebene vollzogen. Eurobonds durch die Vordertür.

Das ist der Durchbruch. Alle Beschränkungen der Staatsschulden gelten nur für die Mitgliedsstaaten. Weder der Maastricht-Vertrag noch der Fiskalpakt hat Beschränkungen für die Verschuldung des EU-Haushalts formuliert. Weil man davon ausging, dass der EU-Haushalt keine Schulden aufnehmen darf.

Man wäre natürlich daran interessiert, weshalb die EU glaubt, dass dies kein Rechtsbruch sei. Aber dazu liest man kein Erläuterungen. Alles geht unter in dem von deutschen Medien kräftig unterstützten Jubel über den „Durchbruch“ beim Volumen des Corona-Pakets und des Anteils der Zuschüsse. Und man hat sogar die Chuzpe, lobend zu erwähnen, dass die EU die Auszahlung der Mittel irgendwie an die Rechtsstaatlichkeit des Empfängerlandes knüpfen will.

Dabei hätte die EU in rechtsstaatlicher Hinsicht selbst einige Fragen zu beantworten. Es ist bedauerlich, dass dies von Politik und Journalismus nicht lautstark eingefordert wird. Ein paar Beherzte erwägen deshalb schon einen Gang nach Karlsruhe. Corona-Hilfen sind richtig und europäische Solidarität ist es auch. Aber gesunde Staatsfinanzen und die Rechtsstaatlichkeit der EU dürfen dabei nicht auf der Strecke bleiben.

Übrigens: 750 Milliarden Euro Schulden sollen aufgenommen und bis 2058 zurückgezahlt werden. Von der nächsten Generation also. Heute aber wollen wir die 750 Milliarden ausgeben und ein Schwerpunkt soll der Klimaschutz sein. Das ist auch eine interessante Volte: Wir lassen die nächste Generation dafür bezahlen, dass wir ihnen ihr Klima nicht kaputtmachen.




Es lohnt sich, „1984“ noch einmal zu lesen

Es gibt im politischen Deutschland derzeit nur zwei Themen: Die Klimaerwärmung und den Kampf gegen Rechts. Wenn Sie Zeitung lesen oder Fernsehnachrichten anschauen: Klima – Rechts, Klima – Rechts, Klima – Rechts. Wir werden dauerberieselt, ob wir das wollen oder nicht. Und ja, natürlich steigen die globalen Temperaturen an. Und natürlich sehen wir jeden Tag, was für wirre Nazi-Idioten es auch unter uns in dieser Gesellschaft gibt, wenn sie nur an den Mörder von Halle neulich denken.

Ein Stadtrat einer Spaßpartei – und mit Spaßpartei meine ich jetzt ausdrücklich nicht die SPD – hat in Dresden gerade durchgesetzt, dass das Stadtparlament den „Nazi-Notstand“ ausruft. Das ist genau so unfassbar blöde wie die Städte, die sich einst selbst zur „atomwaffenfreien Zone“ erklärten. Hat es den Frieden sicherer gemacht? Natürlich nicht. Es hat allen aber vor Augen geführt, wie weit die Infantilisierung der politischen Debatte in Deutschland bereits damals fortgeschritten war. Und heute ist es nicht besser.

Im öffentlich-rechtlichen Radio hörte ich heute Morgen, dass die Klimaziele mit der geplanten Besteuerung des Flugbenzins nicht zu erreichen sei. Wen jucke es schon, wenn ein Flug nach Wien statt 80 demnächst 90 Euro koste? Ergo: Es müsse noch viel teurer werden, damit die Leute Reisen nach Wien mit der Bahn antreten. Mit einem Eselkarren wäre so eine Reise aus NRW nach Wien sicher noch klimaneutraler, denke ich.

Und dann wird darüber berichtet, dass sich die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg in den USA mit dem Schauspieler Leonardo diCaprio getroffen hat. Er habe dabei – die Welt hält den Atem an – zwei Selfies mit der jungen Schwedin gemacht. Das ist inzwischen in öffentlich-rechtlichen Nachrichten zweite Meldung.

Steter Tropfen hölt den Stein, sagt der Volksmund. Etablierte Politiker und ihre publizistischen Beiboote geben alles in diesen Tagen. Und erfreulicher Weise tragen sie mit dieser wirklich platten Stimmungsmache dazu bei, dass immer mehr Bürger skeptisch werden nach dem Motto der Jungen Freiheit „Wo alle einer Meinung sind, wird meistens gelogen.“

Ich muss in jüngster Zeit immer häufiger an George Orwells Roman „1984“ denken, der vom Leben in einem Staat handelt, der seine Bürger umfassend überwacht, der Begrifflichkeiten im Sinne der Herrschenden austauscht, die Vergangenheit immer wieder „anpasst“ und Freigeister, die nicht funktionieren wollen, ins gesellschaftliche Abseits befördert. Da gibt es das „Neusprech“, wir würden im modernen Medienzeitalter von „wording“ sprechen. Da gibt es Parolen, die den Bürgern immer wiederkehrend eingehämmert werden wie „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“ oder „Unwissenheit ist Stärke“. Da gibt es Gedanken, die man nicht denken und Worte, die man nicht benutzen darf. Kommt Ihnen das bekannt vor? Wenn etwa linke Lobbygruppen unsere Sprache verändern, ohne dass dem irgendeine politische Kraft Einhalt gebietet?

Oder denken Sie an die „Geisterjäger“, wie ich sie nenne, die im sogenannten „Kampf gegen Rechts“ Geschäftsleute bedrohen, wenn sie unbotmäßig selbst zu denken wagen und die Arbeitgeber anschreiben, um falsch denkende Mitarbeiter anzuschwärzen und deren Entlassung zu fordern. Denken Sie an die 17 abgelehnten Anfragen der AfD in Berlin, die im rot-rot-grün regierten Berlin Räume für ihren Landesparteitag zu mieten versucht.

Denken Sie an Bernd Lucke und Christian Lindner (FDP), die an der Hamburger Universität zum Schweigen gebracht wurden oder gar nicht erst auftreten durften. Denken Sie an Thomas de Maiziére (CDU), der in Göttingen seine Lesung absagen musste, weil ein linksradikaler Mob die Zugänge blockierte. Wo ist da unser Staat, der das in Artikel 5 unseres Grundgesetzes festgeschriebene Recht auf freie Rede durchsetzt? Wo ist der Bundespräsident, wenn man ihn mal braucht?

Nein, Deutschland 2019 ist natürlich nicht Orwells „1984“. Und die Bundesrepublik ist noch lange nicht wie die DDR. Publizisten wie Vera Lengsfeld,  wie Henryk Broder, Dieter Stein, Matthias Matussek, Thilo Sarrazin, viele andere und auch ich wären in einem solchen Staat längst ausgeschaltet – wie auch immer. Aber die Entwicklung ist besorgniserregend. Denken Sie allein an den inflationären Gebrauch des Begriffes „Nazi“ im politischen Meinungskampf, der eine Verhöhnung der Opfer der wirklichen Nazis von einst darstellt!

Das Beunruhigendste von allem ist dabei, wie bereitwillig die Masse der Bevölkerung dem allen folgt. Selbst kluge Köpfe, im Leben stehend, Familie, Beruf, anständiges Einkommen, plappern selbst den größten Schwachsinn nach, wenn es nur jemand im Fernsehen gesagt hat. Diese träge und desinteressierte Masse macht mir persönlich inzwischen mehr Angst als die Radikalen von Rechts und Links und dem Islam zusammen…




Die LKR sind tot, es leben die LKR

Es sollte der letzte Parteitag der Liberal-Konservatien Reformer, kurz LKR, sein. Doch die knapp 100 Mitglieder, die nach Kassel gekommen waren, um bei der Kleinpartei der AfD-Gründers Bernd Lucke ihre Stimmen in die Wagschale zu werfen, hatten andere Pläne. Ja, der Wiedereinzug ins Europaparlament ist gescheitert. Ja, Geld ist auch nicht mehr da. Ja, es sind nicht einmal mehr 1000 Mitglieder übrig von den 9.000, die die AfD nach Luckes Sturz auf dem Essener Parteitag verlassen hatten.

Eine Mehrheit sprach sich dennoch dafür aus, die kleine liberal-konservative Partei nicht aufzulösen, sondern in Ruhe zu überlegen, wofür sie vielleicht in drei oder vier Jahren noch nützlich sein könnte.

Mein geschätzter Kollege Markus Krall und auch ich durften als Gäste kurze Grußworte sprechen. Und wir Beide waren uns einig: 1.000 gute, nicht radikale und unzweifelhaft sachkundige Leute in Fragen von Wirtschaft und Europa könnten der deutschen Parteienlandschaft auch nach der Pleite bei der Europawahl gut tun.




Piraten-Julia schmeißt hin…

Die Europaabgeordnete Julia Reda von der Piratenpartei hat viele Fans in der deutschen und europäischen Nerd-Community… Im Kampf gegen die erst gerade beschlossene EU-Urheberrechtsreform war sie eine der lautesten Stimmen und führte die Proteste insbesondere gegen den Artikel 13 an. Nicht wenige politische Beobachter hielten gerade deshalb eine Wiederauferstehung der einst schnell hoch geflogenen und dann dramatisch abgestürzten Partei bei der anstehenden EU-Wahl am 26. Mai für möglich.

Das dürfte sich nun erledigt haben. In einem Video kündigte gestern die Piratin, Pirat_*In, Pirateuse oder wie auch immer man das in den bunten Kreisen so nennt, ihren sofortigen Austritt aus der Partei an. Grund sei, dass ihr früherer Büroleiter Gilles Bordelais Frauen sexuell belästigt haben soll. Und Bordelais kandidiert im Mai auf Platz 2 der Piratenliste. Angeblich habe er aber im Februar seine Kandidatur niedergelegt. Nun gut, sollen die das unter sich klären.

Interessant für uns alle, die über das Durchwinken der Urheberrechtsreform im EU-Parlament durch die etablierten Parteien empört sind, was Julia Reda Menschen wie uns empfiehlt.

  1. „So jemand darf nicht gewählt werden!“ Jede Stimme für die Piraten könne die Stimme sein, dank der Bordelais ins Parlament erzieht…
  2. „Wählt eine Partei, die sich gegen Uploadfilter engagiert hat. Aber wählt nicht die Piratenpartei!“

Spontan fällt mir da einer ein, der in den vergangenen Tagen mit öffentlichen Stellungnahmen, Briefen und Pressemitteilungen massiv gegen den Uploadfilter gekämpft hat, und den manche Bürgerliche schon aus den Augen verloren haben. Der Mann ist Europaabgeordneter und heißt Bernd Lucke. Und er hat eine Menge Ahnung von Europa….




Von sterbender Streitkultur und Schadenfreude

Ich bekomme in jüngster Zeit immer mal Mails oder auch Nachrichten im Chat von Facebook, wo mich Mitglieder und Aktivisten aus der AfD kritisieren (absolut legitim) oder in Einzelfällen beschimpfen (nicht schön, aber bitte). Ich sei nämlich ein „Systemjournalist“, der Schadenfreude angesichts der Entwicklungen in ihrer Partei empfinde. Und „CDU-hörig“ sei ich auch. Ich weiß jetzt nicht, woran genau sich das alles festmacht, aber wer sich wie ich politisch äußert, wer immer mal kräftig gegen Andere austeilt, der darf nicht zimperlich sein. Also soweit alles gut.

Gleichzeitig habe ich es nun endlich geschafft – ich bin jetzt auch rechtsextrem! In einer – sagen wir – „Ausarbeitung“ für eine angesehene politische Stiftung stellen mich zwei Hobby-Astrologen in einen Zusammenhang mit AfD, Putin-Treuen, Verschwörungstheoretikern und Fremdenfeinden. Mich. Auf so etwas muss man erst mal kommen. Was mich beruhigt: ich bin da in bester Gesellschaft von vielen honorigen Leuten, allen voran meine Frau Birgit, mehreren Journalisten und Bloggern, der großartigen Hedwig von Beverfoerde, die den Elternprotest in Baden-Württemberg organisiert, und so weiter. Ein „Who is Who“ engagierter und zutiefst demokratisch eingestellter Menschen, die mit Fakten und Argumenten dem Zeitgeist entgegentreten. In diesem Zusammenhang genannt zu werden, ist eine Ehre. Das Pamphlet selbst mit dem Logo der Stiftung ist von einer intellektuellen Dürftigkeit, dass sich eine ernsthafte Auseinandersetzung damit erübrigt. Nicht satisfaktionsfähig. Sollen die Autoren es für den Deutschen Comedy-Preis einreichen oder als „Die Geisterjäger“ auf Tournee gehen. Die Frage allerdings, weshalb sich eine traditionsreiche Stiftung für solchen Schmonzes hergibt, wird noch zu klären sein. Falls nötig auch vor Gericht. Ich kann jedenfalls als Journalist gut damit leben, wenn mich die AfDler für „System“ halten und das „System“ für einen heimlichen AfD-Sympathisanten. In erster Linie und vor allem bin ich Journalist und bemühe mich um Äquidistanz.

Es sind seltsame Zeiten, wo kaum noch jemand in Deutschland Wert darauf zu legen scheint, Themen sachlich zu diskutieren und Argumente auszutauschen. Man will Personen diskreditieren, am besten persönlich fertigmachen, wenigstens aber der Lächerlichkeit preisgeben. Wenn ich derzeit so lese, was in den Netzwerken über Bernd Lucke gelästert wird, reibe ich mir oft die Augen. Das sind bisweilen dieselben früheren Parteigänger von ihm, die ihn noch vor einem Jahr in den Himmel gehoben haben. Lucke, der einzige Politiker, der noch Durchblick hat. Der Mann, den Deutschland braucht. Der, dem alle anderen Politiker nicht das Wasser reichen können, weil er so klug ist. Und nun? Ein teamunfähiger, unsympathischer Depp, der die schöne AfD kaputt machen wollte, eingeschleust von Frau Merkel, um verloren gegangene Unionswähler wieder einzufangen und so weiter und so weiter. Nichts erzeugt so viel Emotionen und Hass wie eine zerbochene Liebe. Scheinbar auch in der Politik.

Und dann ist da noch eine weitere Gruppe, die nicht unerwähnt bleiben darf. Nennen wir sie die Schenkelklopfer, auch viele aus der CDU dabei. Hatten sie vor einem Jahr noch die Hosen voll bis zum Hemdkragen, dass ihnen die AfD große Mengen an Wählern und Mitgliedern abjagen könnte, sind sie jetzt besonders gut drauf. So richtig locker. Haha, das war’s dann wohl. Wieder einen Angriff der Konservativen erfolgreich ausgesessen. Ja, ja, der Lucki, das hat er nun davon. Und ALFA? Haha, da ist ja bei Omega Schluß mit neuen Parteien. Ja, sie sind betont locker in diesen Tagen. Die Konkurrenz haben sie akut erstmal vom Hals, manch einer wird vielleicht sogar reumütig zurückkehren, so hoffen sie. Aber ob man sie überhaupt noch nimmt, wenn’s an der Tür klopft – das ist längst nicht ausgemacht. Niemand, so scheint mir, beschäftigt sich damit, was aus diesen drei Millionen Wählern bei der Europawahl wird, denen das etablierte Angebot nicht auszureichen scheint. Die Leute sind ja noch da, und sie werden wohlmöglich sogar mehr. Wenn Konservative auch in Zukunft mit ihren Anliegen beim Establishment kein Gehör finden, werden sich viele dann wieder etwas Neues suchen. Statt zur Schau getragener Überheblichkeit sollten sich die Etablierten etwas demütiger geben und darüber nachdenken, was sie eigentlich selbst falsch gemacht haben, bevor AfD und Co. ein ein Thema wurden.




Wochenende der Entscheidungen – Teil 1: die AfD

Am Ende konnte es nicht mehr wirklich überraschen. Frauke Petry hat sich im parteiinternen Machtkampf bei der „Alternative für Deutschland“ klar gegen Bernd Lucke durchgesetzt. Und, um es vorweg zu sagen: Im persönlichen Vergleich haben die Mitglieder richtig entschieden. Wenn der Gründer, Parteisprecher und Übervater Bernd Lucke noch im Januar dieses Jahres von einer großen Mehrheit der Parteimitglieder getragen und bejubelt und ein halbes Jahr später ausgepfiffen und abgewählt wird, dann hat er etwas falsch gemacht. Alles andere wäre Augenwischerei. Lucke hat durch seinen Sachverstand in der Staatsschuldenkrise bisweilen sogar seine Gegner mit großem Fachwissen beeindruckt. Als Parteigründer und Frontmann sind ihm die Mitglieder in den ersten Monaten zu Füßen gelegen. Doch das ist vorbei. Die große Mehrheit will keinen Dozenten an der Spitze. Das Votum gestern war eindeutig. Mit Frauke Petry hat die AfD nun eine Vorsitzende, die nicht bloß den Kopf von Menschen anspricht, sondern auch Bauch und Herzen. Das ist für eine Parteichefin ein gewaltiges Pfund. Hinzu kommt, dass sie machtbewusst ist, weiß wie Politik funktioniert und außerdem eine sympathische Frau ist, die anders daherkommt als manch freudlose und verbissene Konservative, die man bei Europas Konservativen sonst so erlebt.
Ob die gestrige Entscheidung für die Partei insgesamt gut ist, da habe ich meine Zweifel. Zum einen finde ich den Umgang mit Lucke schäbig. Auch wenn man seine politische Positionierung für falsch hält, geht man so nicht mit einem Mann um, ohne den es diese Partei nicht gäbe. Ich gehe selbst gern ins Fußballstadion und stehe dort auf einer Tribüne hinter dem Tor. Dort wird geschmäht und gepfiffen, manchmal weit über das gebotene Ziel hinaus, und es macht Spaß. Aber eine solche Atmosphäre auf dem Parteitag einer Partei, die selbst den Anspruch erhebt, eine „Volkspartei“ zu werden, das ist unwürdig.
Wohin die Reise der AfD nun gehen wird, ist schwer abzusehen. Ich denke, Petry wird den Vorsitz gut managen. Aber was, wenn die Lucke-Anhänger vom „Weckruf“ den Laden verlassen? Ist ein solcher Aderlaß, bei dem auch viele Funktionsträger und Abgeordnete dabei wären, überhaupt zu kompensieren? Und was, wenn sie bleiben? Geht der Dauerstreit dann weiter? Haben die Wähler Lust auf so etwas?

Und inhaltlich? Eine Mehrheit der Deutschen empfindet Unbehagen angesichts eines zunehmend als Bedrohung empfundenen Islam. Wenn die anderen Parteien in Deutschland das nicht ernst nehmen, wird die AfD aus diesem (PEGIDA-)Reservoir eine Menge Stimmen fischen können. Die schleichende Zerstörung der traditionellen Familie in Deutschland – Stichworte „Ehe für alle“, Gender-Wahn, Frühsexualisierung der Kinder – ist auch so ein Thema, bei dem die anderen etablierten Parteien in Deutschland bisher keine überzeugenden Antworten gefunden haben. Auch hier wird die AfD punkten, wenn nicht wenigstens die bürgerlichen Parteien endlich aufwachen. Aber sonst? Der größte Konstruktionsfehler der AfD ist ihre auch nach zwei Jahren existierende programmatische Unschärfe. Da kämpft eine Beatrix von Storch im EU-Parlament leidenschaftlich gegen den Genderwahn, während sich im Brandenburger Landtagswahlkampf Spitzenkandidat Alexander Gauland bei früheren PDS-Wähler anbiedert, indem er das Kinderaufbewahrungssystem in der früheren DDR als vorbildlich preist. Was gilt denn nun? Beides zusammen geht nicht.

Bei der EU-Wahl, die der erste große Erfolg für die AfD gewesen ist, speiste sich der Zulauf der Wähler im Wesentlichen aus Nichtwählern, früheren FDP-Wählern und früheren Linke-Wählern. Mit einigem Abstand folgten dann enttäuschte frühere CDU-Wähler. Diese Säulen alle zusammenzuhalten, erscheint mit nach dem gestrigen Tag als unmögliches Unterfangen. Wenn ein führender Funktionär der AfD unter dem Jubel der Mitglieder allen Ernstes fordert, auf das Freihandelsabkommen TTIP mit der führenden Wirtschaftsnation der Welt zu verzichten und stattdessen einen gemeinsamen Wirtschaftsraum Europas mit Russland zu bilden, ist das weder im Interesse Deutschlands, noch klug, aber schon gar nicht attraktiv für Wähler, die sich mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigen und ernstzunehmende Alternativen im politischen Angebot wünschen.

Nicht wenige Kommentatoren sehen heute mit der gestrigen Entscheidung das Ende der AfD eingeläutet. Ich bin da nicht so sicher. Es wird entscheidend davon abhängen, welchen Kurs Frauke Petry nun mit ihrer neuen Macht einschlägt. Es wird davon abhängen, ob es den großen „Luxit“ gibt, und es wird davon abhängen, ob es der Partei gelingt, programmatisch eine echte Alternative mit eigenen Ideen zu entwickeln. Eine realistische Alternative, denn Wahlen werden nicht bei „Russia Today“ gewonnen, sondern durch inhaltlich und personell überzeugende Angebote.