Wer stabile Verhältnisse wünscht, darf Alternativlosigkeit nicht akzeptieren

Das Wesen der Demokratie ist das Ringen um die besten Lösungen, das Auswählen können zwischen unterschiedlichen Politikkonzepten. Das muss man in Erinnerung rufen, wenn man in diesen Wochen über das starke Anwachsen sogenannter rechtspopulistischer Parteien bei Wahlen überall in Europa klagt. Ich möchte ganz sicher nicht, dass Marine Le Pen nächstes Jahr zur französischen Präsidentin gewählt wird. Doch statt über die dummen, dummen Bürger zu lamentieren, empfehle ich, einfach mal Ursachenforschung zu betreiben. Das kann man in Österreich tun, wo die FPÖ einst unter Jörg Haider ihren Siegeszug begann. Das fing keineswegs mit Ausländerfeindlichkeit an, sondern es geschah in einem Umfeld, in dem sich zwei Parteien – die SPÖ und die ÖVP – ein ganzes Land untereinander aufgeteilt hatten. Ganz egal, wer gerade regierte: Da gab es hochdotierte Versorgungspöstchen in öffentlichen Bereichen immer schön abwechselnd, hier ein Roter, da ein Schwarzer. Haider hat das zu seinem großen Thema gemacht und den Bürgern eine Alternative angeboten, die heute – viele Jahre später – unter HC Strache offenbar stärkste Partei im Nachbarland ist, ganz sicher bei den Jungwählern. Auch die Geschichte der SVP in der Schweiz, der ehemaligen Fortschrittsparteien in den skandinavischen Ländern oder eben des FN in Frankreich ist begleitet vom Bestreben, den Wählern eine auch konzeptionelle Alternative zum Einheitsbrei des etablierten Politikbetriebs anzubieten. Das ist übrigens kein Merkmal nur rechtskonservativer Parteien, denn auch die Grünen und all die Öko-Parteien weltweit haben damit begonnen, eingefahrene Politik und etablierte Unbeweglichkeit radikal in Frage zu stellen, Politik anders und neu zu denken. Wenn einst der CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Gruhl auf Parteitagen davor warnte, mit den natürlichen Ressourcen des Planeten Schindluder zu betreiben, gingen bei vielen Delegierten demonstrativ die FAZ-Freiexemplare in die Höhe, um absolutes Desinteresse zu bekunden. Was hat Gruhl gemacht? Er hat eine neue Partei gegründet, die seine Gedanken ernst nahm. Im Versagen der CDU, das eigentlich konservative Thema Umwelt- und Naturschutz zu erkennen und aufzugreifen, liegt eine Ursache, warum dieses Land heute mit Spitzenpolitikern wie Claudia Roth und Volker Beck gesegnet ist, die uns immer wieder in Parlament und TV-Talkshows erfreuen.

Und das führt uns zur Alternative für Deutschland, kurz AfD. Die befindet sich im Umfragehoch, irgendwo zwischen acht und 10,5 Prozent – je nach Institut und Fragestellung. Hat sie die Lösung für die großen Probleme des Landes? Hat sie mitreißende Köpfe an ihrer Spitze? Muss jeder selbst entscheiden. Ich glaube, ihr derzeitiger Zuspruch speist sich hauptsächlich aus der demonstrativen Ignoranz insbesondere der beiden großen Parteien in Deutschland gegenüber real vorhandenen Sorgen und Ängsten in der Bevölkerung. Ob diese – wie ich glaube – begründet sind oder nicht, lassen wir an dieser Stelle mal dahingestellt. Aber wenn in einem niedersächsischen 600-Seelen-Dorf praktisch über Nacht 2.000 Flüchtlinge aufgenommen werden sollen, ohne dass die Politik vorher mal mit den Einheimischen spricht, finde ich das mehr als volksfern. „Seit wann muss man die Leute fragen, ob sie neue Einwohner akzeptieren?“, fragte mich diese Woche sinngemäß ein Facebook-Freund. Und klar, muss man nicht, jedenfalls gibt es kein Gesetz, das so etwas vorschreibt. Aber in jedem Kaff wird eine Bürgerversammlung abgehalten, wenn ein Radweg angelegt werden soll. Wäre es da nicht einfach geboten, dass die verantwortlichen Politiker in einem solchen Fall das Gespräch mit dem Bürger suchen?

Jüngst beschäftigte sich der Bundestag endlich einmal mit dem Flüchtlings-Thema. Bundestag, muss ich vielleicht für die Jüngeren erklären, ist unser Parlament. Da sitzen die Leute, die unsere Interessen vertreten und den Regierenden auf die Finger schauen sollen. Und der Regierung soll eine starke Opposition gegenüber stehen, die eigene Konzepte entwickelt und sich als Regierung von Morgen profilieren kann. Ungefähr die Hälfte der Deutschen ist nun nach Umfragen skeptisch in Bezug auf die derzeit stattfindende Masseneinwanderung in dieses Land. Und was sehe ich, wenn ich mir die jüngste Bundestagsdebatte anschaue? Alle finden es toll, was Frau Merkel und ihre Regierung tun. Alle. Beifall des Hohen Hauses von der Linken über Grüne und SPD bis zu Union. Nun werden Sie vielleicht sagen, das ist der momentanen Ausnahmesituation geschuldet, schließlich geht es um Menschen in Not. Ja, geht es. Auch. Aber das Phänomen ist nicht neu. Bei der „Griechenland-Rettung“ ging es in erster Linie um Banken und um Geld. Auch da waren mindestens 50 Prozent der Deutschen dagegen, während unser Parlament mit 500 von 600 Stimmen zustimmte. Immer wieder. Alternativlos und so. Aber wie lange macht ein Wahlvolk das mit, bevor es sich entweder vom „System“ durch Wahlenthaltung verabschiedet oder sich ein Ventil, sprich: eine neue Partei, sucht, um ihren Unmut auszudrücken?

Und deshalb verdient der bevorstehende Bundesparteitag der CDU auch alle Beachtung. Und bitte verschonen Sie mich mit „Scheiss-CDU“ und „ohnehin abgemerkelt“ und „linksgewendet“-Mails. Ob allen das gefällt oder nicht – die Union ist derzeit die stärkste politische Kraft im Land, die Partei mit der Bundeskanzlerin. Keine Politikänderung kann im Augenblick ohne die Union stattfinden. Ich denke, dass dieser Parteitag für den weiteren Weg der CDU und damit auch für die weitere Entwicklung anderer Parteien entscheidende Bedeutung haben wird. Werden die Delegierten willens und fähig sein, die Fehlentwicklungen beim Namen zu nennen, ja mit Mehrheit Kurskorrekturen durchzusetzen? Bemerkenswerte Anträge dazu gibt es reichlich, von der Jungen Union bis zur Mittelstandsvereinigung. Oder werden sie sich zum üblichen Ritual wieder mit Stehenden Ovationen um ihre Parteivorsitzende scharen und so lange Beifall klatschen, bis die beobachtende Journaille mit ihren Stoppuhren zufrieden ist? Ich habe mich seit Jahren nicht mehr für diese weitgehend inhaltsleeren Partei-Hochämter voller Selbstbeweihräucherung interessiert. Dieses Mal werde ich aufmerksam zuhören und zuschauen, ob sich da eine traditionsreiche Partei ihrer Verantwortung stellt oder das Feld freiwillig räumt, auf dem andere Parteien wachsen wollen.




Klartext in Bergisch-Gladbach und Schkeuditz

Lutz Urbach, Bürgermeister von Bergisch-Gladbach, hatte gestern im WDR einen überaus souveränen Auftritt. Sachlich schilderte er, was derzeit in der Kommune los ist, deren Verwaltung er seit 2009 führt. Ursprünglich hatte man gut 600 Flüchtlinge aufgenommen und – „darauf waren wir stolz“ – gewisse Standards gesetzt, zum Beispiel, dass die Ankommenden in Wohneinheiten mit eigener Küche untergebracht wurden. Inzwischen wurden der 100.000-Einwohner-Stadt im Bergischen Land gut 1.200 Flüchtlinge zugeteilt, und niemand weiß, wie viele es noch werden. Von Standards spricht keiner mehr und von eigenen Kochmöglichkeiten. Inzwischen wurden auf dem Sportplatz zwei Leichtbauhallen errichtet. Weil die üblicherweise konsultierten Möbelhäuser vor Februar keine Betten mehr liefern können, fuhren städtische Bedienstete zu IKEA und kauften dort in einer Hauruck-Aktion für 15.000 Euro Möbel für die Neuankömmlinge. Und auch in Bergisch-Gladbach ist es kalt geworden. Die Leichtbauhallen werden mit Öfen beheizt, und weil am vergangenen Wochenende der Sprit auszugehen drohte, fuhren ehrenamtliche Helfer mit Benzinkanistern zu einer Tankstelle, um Diesel zu kaufen, damit die Heizöfen weiter betrieben werden konnten. Ein paar Szenen aus dem Alltag, wie er sich in diesen Tagen so oder ähnlich überall in Deutschlands Städten abspielt.

Da sprach kein Ausländerfeind, da ging es auch nicht um Kriminalität oder „Invasion“, sondern da erklärte ein Bürgermeister in ruhigen Worten, dass nun nichts mehr geht. Fini! Aufnahmekapazität erschöpft! Lutz Urbach gehört zur CDU, der Partei, der Bundeskanzlerin Angela Merkel vorsitzt. Und die galt bis vor wenigen Wochen über Parteigrenzen hinaus als letztlich alternativlos. Dass das nicht so bleiben muss, wird sie spätestens am vergangenen Mittwoch im sächsischen Schkeuditz begriffen haben. Dort waren rund 1.000 Parteiffreundinnen und -freunde zu einer Regionalkonferenz mit Frau Merkel zusammengekommen. Ich bin sicher, diesen Abend wird sie so schnell nicht vergessen, denn in für CDU-Verhältnisse völlig ungewohnter Klarheit wurde der eigenen Kanzlerin da die Meinung gegeigt. Die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge, die Weigerung, eine Obergrenze festzulegen, das schlechte Krisenmanagement – viele Parteimitglieder sind empört und fordern einen radikalen Kurswechsel. Grenzen zu – sofort! Diese Forderung ist nicht mehr zu überhören. Schon am Dienstag hatte es in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion massive Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik gegeben. „Glaubt Ihr, wir könnten einfach so die Grenzen schließen?“, hatte Merkel da sinngemäß gefragt. Spontan riefen mehrere Abgeordnete laut „Ja!“, gefolgt von tosendem Beifall der Fraktion.

Merkel hat der Union, insbesondere ihrer CDU, in den vergangenen Jahren viel zugemutet und abverlangt. Der sogenannten Modernisierungskurs hat ihre Partei in vielen Bundesländern und Großstädten Mehrheiten gekostet. Die CDU war nie die Partei von Öko-Strom, Homo-Ehe und Mindestlohn, und ich denke, sie wird es auch nie mit dem Herzen sein. Aber ihre Union ist der Kanzlerin gefolgt, selbst als es um den ungeliebten Euro und die Griechenland-Rettung ging. Doch die Flüchtlingskrise überspannt den Bogen. In einer aktuellen Umfrage erklären diese Woche 57 Prozent der repräsentativ Befragten, man solle erstmal keine weiteren Flüchtlinge mehr in Deutschland aufnehmen. Bürgermeister und Landräte gehen in die Öffentlichkeit und stellen klar, dass das Boot voll ist. Und die meistens handzahme Parteibasis tritt Angela Merkel gegenüber und ist auf Krawall gebürstet. Pegida und AfD könnte sie durchstehen, so lange eigene Partei und Koalitionspartner ihr den Rücken stärken. Kippt das, ist durchaus möglich, dass wir in diesen Tagen den Anfang vom Ende der Merkelschen Kanzlerschaft erleben.

Doch Totgesagte leben oft auch lange. Wie all das ausgeht, ist längst nicht entschieden. Im Internet lese ich von der Erwartung, dass Merkels Rücktritt unmittelbar bevorsteht. Andere mutmaßen, sie werde bald in den Job der UN-Generalin wechseln, wobei mir nicht bekannt wäre, dass sie diesen Berufswunsch jemals geäußert hätte. Es kann auch alles ganz anders kommen. Sollte sie die Signale nicht nur hören, sondern schnell Konsequenzen daraus ziehen und ein tragfähiges Krisenmanagement installieren, den weiteren Zuzug deutlich begrenzen, mit dem gestern beschlossenen neuen Asylgesetz konsequent diejenigen abschieben, die kein Recht haben, hier bei uns zu sein, ist durchaus möglich, dass sie noch einmal die Kurve kriegt. Aber es hängt nun von ihr selbst ab.




Ein Narrenschiff auf großer Fahrt

Ganz ehrlich: Mein Publizistenleben überfordert mich im Moment. Ich musste mich geradezu zwingen, mit meiner neuen Kolumne zu beginnen. Ich mag nicht mehr über das Thema Flüchtlinge schreiben, aber man kommt nicht darum herum. Ich mag nicht mehr den Zusammenhalt unseres Landes beschwören, denn den gibt es nicht mehr. Sie werden sagen: es gab immer Leute, die etwas zu meckern hatten. Doch das hier ist anders. Zeitung zu lesen, Fernsehen zu schauen, ja selbst bei meinen Freunden in Facebook unterwegs zu sein, was ich wirklich gerne tue, macht mir zur Zeit nur noch wenig Spaß. Durch unsere Gesellschaft geht ein Riss, wie ihn Deutschland seit dem Kampf um die Ostpolitik von Willy Brandt nicht mehr erlebt hat. Zwei große Lager standen sich damals fast unversöhnlich gegenüber. Die einen waren überzeugt, Brandt, Wehner und Bahr würden uns „an die Russen verkaufen“. Die anderen bejubelten kritiklos nahezu jede Preisgabe westlicher Positionen in der Zeit des Kalten Krieges. Es gab Demonstrationen, sogar Handgreiflichkeiten, die „Aktion Widerstand“ veranstaltete Großkundgebungen. Man hatte nicht das Gefühl, dass da Leute zusammen in einem Land leben wollten.

Heute ist es wieder so, vielleicht sogar intensiver als damals. Begonnen hat es nicht erst mit den Flüchtlingen. Fast hat man das Gefühl, die Parteien sind irgendwann aus dem politischen Geschäft ausgestiegen. Keine klaren Aussagen mehr, keine eigenen, durchdachten Konzepte, kaum erkennbares Interesse daran, was ihre Wähler bedrückt, es ist gespenstisch. Am Mittwoch war die Bundeskanzlerin im Fernsehen. Vorwärtsverteidigung, so nennt man das wohl. Irgendwer im Kanzleramt muss ihr bei der Morgenlage zugeraunt haben, dass die Stimmung im Volk schlechter wird. „Frau Bundeskanzlerin, sie müssen jetzt etwas tun….“ So ähnlich wird es geklungen haben. Und so setzte sie sich also gegenüber von Anne Will und erklärte ihre Sicht der Dinge. Obwohl ich schon lange keine Merkel-Fan mehr bin, stehe ich zu meiner Ansicht, dass sie sich ordentlich geschlagen hat. Zwei minus, würde ich unter die Klassenarbeit schreiben. In den sozialen Netzwerken ging es nach der Sendung erst noch halbwegs zivilisiert zu, wenngleich unterschiedliche Meinungen deutlich aufeinander prallten. So soll es sein in einer Demokratie. Aber am Tag danach hatte ich den Eindruck, im Irrenhaus sei Tag der offenen Tür. In gleich mehreren Zeitungen bekundeten politisch linksgestrickte Journalisten, sie hätten Merkel noch nie gewählt, aber jetzt sei sie #meinekanzlerin. Von „Befreiungsschlag“ fabulierten Analysten und davon, dass sie wieder kraftvoll zurückgekehrt sei. Bei online-Abstimmungen sagten dagegen 86 bis 90 Prozent, Merkel sei eine einzige Katastrophe gewesen. Ich wurde auch verschiedentlich von FB-Freunden aufgefordert, unbedingt bei dieser oder jener Abstimmung gegen Merkel zu stimmen. Ich habe mich kurz gefragt, ob ich auch Aufrufe von CDU-Freunden bekommen würde, Merkel per Abstimmung ganz toll zu finden. Aber dann fiel mir wieder ein, dass die CDU ja das Kämpfen verlernt hat, und es kam auch tatsächlich nichts.

In Dresden verzeichnet derweil Pegida wieder starken Zulauf, in Erfurt trommelt die AfD 8.000 Anhänger zusammen, um die Kanzlerin aufzufordern, sich doch einen anderen Job zu suchen. Im Fernsehen kanzelt ein unerträglich arroganter Verlegersohn-Schnösel eine junge Polizistin ab, die von ihrem unerfreulichen Alltag mit vorzugsweise jungen Muslimen berichtet. Weitergezappt! Auf N24 ist Michel Friedman mit einem Kamerateam unter Flüchtlingen unterwegs. Es war wirklich spannend, zu hören, was einige von ihnen über ihr Leben und ihre Motivation, nach Deutschland zu kommen, erzählten. Weitergezappt! Polizisten führen einen grinsenden Asylbewerber ab, der sich in einer Flüchtlingsunterkunft geprügelt hat. Es war wohl sogar noch etwas bunter, insgesamt 60 Beamte mussten anrücken, erfahre ich. Auf Facebook vergleichen zum wiederholten Mal Menschen, die mit ihren Sorgen ernst genommen werden möchten, Merkel mit Hitler. Ja, mit Hitler. Manchmal ist man einfach nur sprachlos, einmal wegen des widerlichen und sowieso unhistorischen Vergleichs an sich, aber auch, weil dieselben Leute immer beklagen, dass man ja in der politischen Auseinandersetzung stets einen mit der „Nazikeule“ übergebraten bekomme. Nicht ganz zuende gedacht, würde ich meinen.

Ich könnte noch eine Stunde weiter Erlebnisse und Momentaufnahmen aus dem Tollhaus erzählen, aber ich mag Sie, meine geschätzten Leserinnen und Leser, nicht langweilen. Doch ich möchte nochmal daran erinnern: Unser gemeinsames Land befindet sich in einer komplizierten, wahrscheinlich sogar gefährlichen Situation. Nicht wegen der Kosten, das wuppt Deutschland allemal, aber wegen des in Teilen unkontrollierten Zustroms Hunderttausender Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis. Die integriert man nichtmal einfach so nebenbei, das ist ein langer Prozess – und der sollte übrigens wirklich nur denen offenstehen, die ein Recht darauf haben, bei uns Schutz und Aufnahme zu erhalten. Es gibt irre viel zu tun, das ist ein Prozess, der die ganze Gesellschaft beeinträchtigt und herausfordert. Und was passiert hier? Manchmal kommt man sich vor wie an Bord der „Vera“ im berühmten Roman vom „Narrenschiff“, wo alle Arten von Charakteren und Ethnien auf engstem Raum beisammen sind, und von Tag zu Tag eine unangenehme und aggressive Gereiztheit zunimmt, die schließlich alle erfasst…




Das Kreuther Phantom spukt mal wieder

Dass in Internetforen und Leserbriefen der Rücktritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel gefordert wird, ist Alltag. Die Intensität, mit der es augenblicklich geschieht, ist neu. Das Agieren dieser sonst so machtbewussten Frau an der Spitze unserer Regierung in Bezug auf den Zustrom von Flüchtlingen stößt inzwischen auf harsche Kritik in großen Teilen der Bevölkerung. Da ist mächtig Dampf auf dem Kessel. Manch einer setzt darauf, die Kanzlerin werde sich bald von selbst verabschieden, um das Amt einer UN-Generalsekretärin zu übernehmen. Wie intensiv das diskutiert wird, ohne dass Merkel jemals öffentlich die Absicht geäußert hätte, diesen Job im Hochhaus am Hudson River anzustreben, ist erstaunlich.

Noch erstaunlicher jedoch ist, wie laut auf einmal zumindest in unionsnahen und konservativen Kreisen, eine Ausdehnung der CSU aufs ganze Bundesgebiet geradezu beschworen wird. Horst, komm und rette uns, ist – mit anderen Worten – in vielen Foren und Netzwerken zu lesen. Allein, da wird der Wunsch Vater des Gedankens sein und bleiben. Der große CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß hatte es einst versucht, als auf seine Initiative hin am 19. November 1976 die CSU-Landesgruppe des Bundestages bei ihrer Klausurtagung in Wildbad Kreuth beschloß, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufzukündigen. Groß war die Aufregung seinerzeit, als diese politische Sensation bekannt wurde. Doch in Bonn saß einer, der kühl blieb, frostig sogar. Oppositionsführer Helmut Kohl, der Mann aus der Pfalz, Vorsitzender der Schwesterpartei, stellte klar: eine Ausdehnung der CSU auf die Bundesrepublik werde den sofortigen „Einmarsch“ der CDU nach Bayern bedeuten. Aus zwei CSU-Bezirksverbänden signalisierte man Kohl Unterstützung für diesen Fall. Und in der CSU begann das Rechnen. Eine CDU in Bayern, selbst wenn sie nur 10 Prozent der Stimmen erränge, würde absolute Mehrheiten und viele Direktmandate gefährden – Abgeordnete, Bürgermeister und Landräte kosten. Am 12. Dezember, nach nur gut drei Wochen, brach die Revolution zusammen. Die CSU besann sich auf ihre Kernkompetenz als DIE Partei der Bayern, die aus dem Freistaat ein Erfolgsmodell sondergleichen geformt hat. Kaum anzunehmen, dass man in München Lust verspürt, sich jetzt erneut auf ein großes Abenteuer dieser Art einzulassen.




Liebe CDU, jetzt mal Butter bei die Fische!

Der Verband „Lesben und Schwule in der Union“ (LSU) soll beim nächsten Bundesparteitag eine offizielle Arbeitsgemeinschaft der CDU Deutschlands werden. Das meldet unser Lieblingsmagazin „Der Spiegel“ in dieser Woche. Nun erschließt sich auf den ersten Blick nicht, warum die „Volkspartei der Mitte“ neben mitgliederstarken Verbänden wie der Jungen Union (JU), Frauen Union (FU), Mittelstandsvereinigung MIT und Arbeitnehmerflügel CDA eine 400-Mitglieder-Organisation, deren Kernforderungen nicht einmal von der Partei geteilt werden, mit Sonderrechten und wahrscheinlich auch Budget ausstatten will. Aber sei’s drum, das ist nicht mein Problem. Wenn „Muttis GAYle Truppe“ (Eigenwerbung) Teil der Parteistruktur werden soll – bitte sehr. Allerdings würde ein solcher Beschluss Fragen aufwerfen. Im Jahr 2009 konstituierte sich im Umfeld der Union ein „Arbeitskreis Engagierter Katholiken“ (AEK), der analog zur von der CDU anerkannten Vereinigung „Evangelischer Arbeitskreis“ (EAK) besonders katholische Positionen in die innerparteilichen Diskussionen der C-Partei einbringen wollte. Anders als den evangelischen Mitchristen wurden den Katholiken eine Anerkennung als Partei-Organisation jedoch versagt. Die „Christdemokraten für das Leben“ (CDL), eine weitere Organsation mit rund 6.000 Mitgliedern, setzt sich für unbedingten Lebensschutz ein – gegen Abtreibung und Sterbehilfe. Auch die CDL ist lediglich „sonstige Organisation“, die zwar ein paar Bundestagsabgeordnete in ihren Reihen hat und bisweilen Parteiräumlichkeiten nutzen, aber keine offizielle Parteigliederung sein darf, die z. B. Antrags- und Vorschlagsrecht bei Parteitagen hätte. Wenn die CDU wirklich die große Volkspartei auf christlichem Wertefundament sein will, dann sollte sie mit der LSU zusammen auch CDL und AEK zu Part-Verbänden ernennen. Das wäre dann konsequent.