1

DOKU Vera Lengsfeld beim Schwarmtreffen am 24. August in Berlin: „Das war leider ein Irrtum“

Die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und streitbare Autorin Vera Lengsfeld hat am 24. August dieses Jahres die Festrede beim Deutschland-Dinner anlässlich der 4. Vollversammlung der wahren Schwarmintelligenz gehalten. Zum Tag der Deutschen Einheit dokumentieren wir Auszüge aus der Rede…

Um es gleich am Anfang zu sagen: Es gibt Meinungsfreiheit in Deutschland, aber sie steht nur noch auf dem geduldigen Papier, auf das unser Grundgesetz gedruckt ist. Das war in der DDR auch so. Art.27 der DDR-Verfassung begann mit dem Satz: „Jeder Bürger der DDR hat das Recht, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern“. Der Pferdefuß war in einem Nebensatz versteckt und lautete: Im Rahmen dieser Verfassung. Dieser Rahmen erwies sich als sehr eng, wie ich selbst mehrfach erfahren habe, am krassesten, als ich im Januar 1988 versuchte, mit einem Plakat, auf dem dieser Satz stand, an einer von der SED organisierten Demo teilzunehmen, die zu Ehren von Rosa Luxemburg veranstaltet wurde, der wir den Satz verdanken: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“.

Auf meinem Transparent stand der Anfang von Art.27 der Verfassung der DDR. Dieser Satz brachte mich ins Stasigefängnis nach Hohenschönhausen. Als die DDR unterging, war ich der Überzeugung, im neuen Deutschland würde ich nie wieder  Probleme mit der Meinungsfreiheit bekommen. Das war leider ein Irrtum. Im Jahr 2019, dem dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls, ist die Meinungsfreiheit in Deutschland praktisch abgeschafft. Jeder Abweichler von den politisch-korrekten Vorgaben der Meinungsmacher in Politik und Medien, jede Kritik an der Regierungspolitik, wird inzwischen unter Kuratel gestellt. Das geht , wie wir erfahren mussten, bis hin zu der totalitären Forderung, Kritikern die Grundrechte nach Art 18 des Grundgesetztes zu entziehen, wie jüngst der Ex-Generalsekretär der CDU Peter Tauber getan hat und unser Innenminister Horst Seehofer jetzt „prüfen“ will.

(…)

Den Deutschen wird nachgesagt, das sie Sicherheit gegenüber der Freiheit bevorzugten und bereit seien, der Einschränkung von Freiheit zuzustimmen, wenn sie vor die Wahl gestellt würden, zwischen beiden Werten zu entscheiden. Ob das wirklich auf die Mehrheit der Deutschen zutrifft, oder ob es sich um eine der vielen herrschaftsstabilisierenden Legenden handelt, will ich nicht untersuchen.

Mein Thema sind die vielen Deutschen, die sich in allen Jahrhunderten für die Freiheit stark gemacht haben. Auf den Regenbogenfahnen des Bauernkrieges stand „fryheit“, nicht Vielfalt oder ein anderes der Modewörter, die heute als Freiheits-Ersatz kolportiert werden.

Kann man über die Bauernkrieger noch geteilter Meinung sein, weil Teile der Bewegung von Radikalen wie Thomas Müntzer dominiert wurden, sollte es unstrittig sein, dass die heute von der linken Meinungsmache geschmähten Burschenschaften Vorkämpfer für die Freiheit waren.

Die Teilnehmer des Hambacher Festes von 1832 ersehnten  und forderten die Freiheit, die uns heute peu á peu wieder entzogen wird. Unser Freiheitsdichter Friedrich Schiller hat es auf den Punkt gebracht: „Die ganze Weltgeschichte ist ein ewig wiederholter Kampf der Herrschsucht gegen die Freiheit“. Wir erleben das heutzutage hautnah mit. Wieder haben wir die Freiheit gegen die Herrschsucht einer politischen Clique zu verteidigen, die ihre Macht im Namen von Buntheit, Vielfalt, Weltoffenheit und anderen Wiesel-Wörtern, wie August Friedrich Hayek sie bezeichnen würde, zementieren wollen. Das ist die alte Geschichte, die nur immer wieder neu erzählt wird.

Klingt Jacob Friedrich Siebenpfeiffers Rede, die er 1832 auf Schloss Hambach hielt nicht brandaktuell?

„… Wir widmen unser Leben der Wissenschaft und der Kunst, wir messen die Sterne, prüfen Mond und Sonne, wir stellen Gott und Mensch, Höll’ und Himmel in poetischen Bildern dar, wir durchwühlen die Körper- und Geisterwelt: aber die Regungen der Vaterlandsliebe sind uns unbekannt, die Erforschung dessen, was dem Vaterlande Noth thut, ist Hochverrath, selbst der leise Wunsch, nur erst wieder ein Vaterland, eine frei-menschliche Heimath zu erstreben, ist Verbrechen. Wir helfen Griechenland befreien vom türkischen Joche, wir trinken auf Polens Wiedererstehung, wir zürnen, wenn der Despotism der Könige den Schwung der Völker in Spanien, in Italien, in Frankreich lähmt, wir blicken ängstlich nach der Reformbill Englands, wir preisen die Kraft und die Weisheit des Sultans, der sich mit der Wiedergeburt seiner Völker beschäftigt, wir beneiden den Nordamerikaner um sein glückliches Loos, das er sich muthvoll selbst erschaffen: aber knechtisch beugen wir den Nacken unter das Joch der eigenen Dränger; wenn der Despotism auszieht zu fremder Unterdrückung, bieten wir noch unsern Arm und unsere Habe; die eigene Reformbill entsinkt unsern ohnmächtigen Händen …“

Ein paar kleine Änderungen nur und wir haben den aktuellen Zustand Deutschlands.

Was wollt ihr eigentlich, fragen die Gegner der Freiheit, wir haben doch alles, was die Freiheitskämpfer immer wollten: Demokratie, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, ein Grundgesetz, freie und geheime Wahlen und Wohlstand für alle. Ja, auch Zuckererbsen für jedermann, wie es sich der Zeitgenosse der Hambacher Festgesellschaft, Heinrich Heine, wünschte, sogar für jene, die sie nicht mit eigenen Händen erwarben. Es sind alle Voraussetzungen für ein gutes Leben für alle vorhanden. Noch, muss man hinzufügen, denn jene, die von Herrschsucht getrieben werden, sind gerade dabei, diese Grundlagen nachhaltig zu zerstören.

Fangen wir bei der Meinungsfreiheit an, die Voraussetzung für alle andern Freiheiten ist. Jeder kann seine Meinung frei und öffentlich äußern, so wie es das Grundgesetz garantiert, wird und entgegengehalten. Widerspruch müsse man dabei in Kauf nehmen. So weit, so gut. Wie sieht die Realität aus?

Nehmen wir die „Gemeinsame Erklärung 2018“, mit der mehr als 160. 000 Bürger unseres Landes die Wiederherstellung von Recht und Gesetz an den Grenzen unseres Landes fordern. Sie lautete:

„Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.“

Es gab zahlreiche Reaktionen, in den Medien, die wenigsten waren sachlich. Die Petenten hatten offenbar einen wunden Punkt getroffen. Noch nie sind zwei klare Sätze solchen Exegesen unterzogen worden. Die Kritik bezog sich dann vor allem darauf, was man uns unterstellte, nicht darauf, was wir wollen: Die Wiedereinsetzung der Rechtsstaatlichkeit.

(…)

In einer Demokratie gibt es normalerweise eine demokratische Rechte, wie es eine demokratische Linke gibt. In Deutschland ist diese Balance außer Kraft gesetzt, weil Politik und veröffentlichte Meinung alles anprangern, was dem linken Mainstream widerspricht. Es gibt keine Debatten mehr, kein Austausch und Abwägen unterschiedlicher Argumente. Das ist Gift für eine funktionierende Demokratie. Das heutige Deutschland wird einer Gesinnungsdiktatur immer ähnlicher. Um diese Schieflage wieder ins Lot zu bringen braucht es die Rückkehr der politischen Debatte.

Von den „Rechten“ wird ständig Distanzierung verlangt, die Linke dagegen denkt gar nicht daran, sich von Verbalradikalismus á la „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ oder die Gewaltanwendung der Antifa zu distanzieren. Die grölende, prügelnde, Steine schmeißende Antifa ist willkommenes Mitglied im „Bündnis gegen Rechts“. Inzwischen wird mit klammheimlicher Freude goutiert, dass die Antifa Wohnungen von NPD-Angehörigen zerstört. Ein Bibliothekarin soll nach dem Willen von Studenten der TU Dresden ihren Beruf nicht mehr ausüben, weil sie es wagte, in der Kommunalwahl für die AfD zu kandidieren. Man muss aber weder Mitglied, noch Sympathisant der AfD sein, um ins Visier der Freiheitsfeinde zu geraten. Es genügt, sich dafür auszusprechen, dass mit dieser Partei, die so demokratisch ist, dass sie trotz politischen Drucks nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden kann, demokratisch umgegangen werden soll, um Sanktionen zu erfahren. Da wird einem schon einmal das persönliche Konto gekündigt, das man immer tadellos geführt hat. Solche illegalen Aktionen werden mit „zivilgesellschaftlichem Engagement gegen rechts“ begründet. So höhlt der staatlich geförderte „Kampf gegen rechts“ die Rechtsstaatlichkeit aus.

(…)

aufgehoben. Er soll nun wieder aufleben? Mit welchen Zwangsmassnahmen soll das durchgesetzt werden? Wieder ist die Forderung an sich nicht das Problem, sondern ihre massenhafte unkritische Verbreitung.

Ein weiteres Beispiel für die Manipulation der Bevölkerung. Trotz der gestiegenen Gewaltverbrechen wird uns allen Ernstes eine Statistik präsentiert, die angeblich sinkende Kriminalitätsraten beweisen soll. Wer hat gesagt, dass er nur der Statistik traut, die er selbst gefälscht hat? Churchill? Man muss inzwischen genau, manchmal zwischen den Zeilen lesen, wie einst in der DDR.

Die Meldung hieß: „Fast zehn Prozent weniger Straftaten erfasst, als im Vorjahr“. Dazu eine Anekdote: ein CEO steht auf dem Essener Hauptbahnhof im Wartebereich der 1.Klasse, als er von einer Gruppe junger Männer nicht biodeutschen Ursprungs umkreist , geschubst und überall befingert wird. Als sie von ihm ablassen und flüchten, steht er wie ein gerupftes Huhn da. Brieftasche, Handy, I-Pad, Fotoapparat, Koffer, Uhr – alles weg. Als er zur Bahnhofspolizei geht, um Anzeige zu erstatten, weigern sich die Beamten. Es wäre aussichtslos und würde deshalb nur die Statistik versauen. Die sinkende Kriminalitätsrate ist eine Irreführung der Bevölkerung – Orwell-Sprech. Das ist gelebte Unfreiheit!

(…)

Wie steht es mit der Demonstrationsfreiheit? Nach wie vor ein durch das Grundgesetz garantiertes Recht. Man kann erfolgreich Demonstrationen anmelden. Sobald es aber eine Demonstration gegen die politisch-korrekte Mehrheitsmeinung ist, melden die Demokraten in Politik und Medien so lange Bedenken an, bis die Antifa auf den Plan tritt.

Wieder ein Beispiel: Im vergangenen Jahr gab es in Köln eine Demonstration von Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft gegen die „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ genannte Zensurverordnung vom ehemaligen Justizminister Maas. Das üblich breite Bündnis aus SPD, Gewerkschaftern, Linken, Grünen und Gelegenheits-Antifanten versuchte unter Bruch der Auflagen, Abstand zu halten, drei Stunden lang mit allem, was die Lungen hergaben, den Protest gegen die Zensur niederzubrüllen.

Das Pikante dabei: Weder wußten die lärmenden Linken, dass ihre Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau eine der besten Reden gegen das Maaß-Gesetz gehalten hatte, noch hatten die Vertreter der Grünen Jugend, die den Protest gegen das Zensurgesetz „Nazi“ fanden, dass ihr Bundestagsabgeordneter Konstantin von Notz einer der eifrigsten Kämpfer gegen dieses Gesetz ist. Er wäre also auch ein „Nazi“.

(…)

Was ich beispielhaft an Deutschland erläutert habe, trifft auf ganz Westeuropa zu. Widerstand gibt es hauptsächlich  in den ehemaligen Ostblockländern. Hier haben die Menschen vor einem Vierteljahrhundert die Freiheit unter Gefahr für Leib und Leben erkämpft. Sie sind offenbar sensibler für die Gefahren, die der Freiheit drohen. Ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Ostblocks stehen wir wieder vor einer geschichtlichen Wahl: diesmal ist es der ideologische Eiserne Vorhang, den wir entweder erfolgreich abschaffen, oder von dem wir versklavt werden.

(…)

Unsere Leitbilder sind die Widerstandskämpfer gegen Diktaturen, Menschen wie Joachim Fest, der sich schon als Gymnasiast dem Nationalsozialismus entzog, die Studenten der Weißen Rose, die ihr Vaterland von den Nazis befreien wollten, die Männer des 17. Juli und Georg Elser, die bereit waren, einen Diktator zu töten, alle Deutschen, die Juden geholfen haben, unterzutauchen und zu überleben, die ihre zugeteilten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter menschlich behandelt haben und deshalb von ihnen in den Hungerjahren 1946/47 mit Care-Paketen versorgt wurden.

In Deutschland wurde die Tätergeschichte des Nationalsozialismus bis ins Detail aufgearbeitet. Dabei ist es den Tätern und ihren Nachkommen gelungen, ihre Schandtaten in die aller Deutschen umzuwandeln.

Wer die Freiheit liebt,  orientiert sich am Widerstand: Welche Charaktereigenschaften bewahren den Einzelnen davor, sich als Werkzeug von Diktatoren anzudienen oder mißbrauchen zu lasen? Was befähigt den Einzelnen, der Propaganda zu widerstehen, sich eine eigene Meinung zu bilden und sie erfolgreich zu verteidigen? Was macht aus uns Menschen nicht eine folgsame, von Politik und Medien manipulierbare Masse, sondern selbstbestimmte Individuen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen?

(…)

Die Friedliche Revolution von 1989 hat es gezeigt: Wenn sich genügend viele Menschen finden, die den Herrschenden die Legitimation absprechen und die Gefolgschaft verweigern, bricht auch ein bis an die Zähne atomar bewaffnetes System zusammen. Damals verschwand fast über Nacht eine ganze politische Klasse. Davor steckt die Furcht den Herrschsüchtigen bis heute in den Knochen. Deshalb wird immer wieder bestritten, dass es sich damals um eine Revolution gehandelt hat und behauptet, dass die „Wende“ eigentlich ein Werk von Politikern gewesen sei.

Die Wahrheit ist, die Politiker hatten fast ein Jahr lang nichts zu sagen, sie mußten den Ereignissen hinterherrennen.

Auch heute dürfen wir nicht auf die Politik hoffen. Die ehemals emanzipatorische Linke wußte das:„Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun“.

 




Der Mann, der das Richtige tat, als der Mantel der Geschichte wehte

Heute ist der Tag der Deutschen Einheit! Haben Sie mal kurz daran gedacht? Am 3. Oktober 1990 stand ich mit einem Kopfhörer über den Ohren und einem Mikrophon in der Hand auf der Pressetribüne am Reichstag und berichtete live für ein gutes Dutzend Privatradios überall in Deutschland, als die gewaltige schwarz-rot-goldene Fahne aufgezogen wurde zum Klang der Freiheitsglocke. Den Blick nach vorn gerichtet auf ein wahrliches Meer von Menschen und Fahnen. Unvergessliche Momente meines Journalistenlebens.

Die CDU-Politikerin Julia Klöckner hat vorhin getwittert, dass heute im Film mit Zeitdokumentationen zum Festakt der damalige Kanzler Helmut Kohl weder gezeigt noch überhaupt erwähnt wurde. Frau Klöckner findet das skandalös…und ich auch.

Helmut Kohl hat nicht die Wiedervereinigung ausgelöst. Natürlich nicht! Den Anstoss haben die tapferen Männer und Frauen der Bürgerrechtsbewegung auf den Straßen von Leipzig und Dresden und vielen Orten im damals unfreien Teil unseres Landes gegeben. Unfassbar mutige Menschen, unsere Landsleute „drüben“.

Und dann wehte der Mantel der Geschichte und der Bundeskanzler tat genau das Richtige. Er fand die richtigen Worte im Dezember 1989 vor der Dresdner Frauenkirche, er setzte sich einem schrillen Pfeifkonzert des vieltausendköpfigen linken Mobs vor dem Schöneberger Rathaus aus. Er überzeugte den US-Präsidenten Bush senior – das war leicht – und Frankreichs Präsidenten Mitterand – das war schwer. Er zwang Maggie Thatcher so lange zum Saumagenessen in Oggersheim, bis auch sie zustimmte. Und er plauderte mit Gorbatchow auf einer Steinmauer am Rhein in Bonn über den ewigen Lauf der Geschichte, der verläuft wie so ein großer Fluß. Und schließlich schwitzte und soff er mit Jelzin. Für Deutschland…

Helmut Kohl hat in diesem Prozess, der zur Wiedervereinigung Deutschlands führte, eine herausragende Rolle gespielt, was auch immer man sonst an ihm kritisieren kann und muss.

Aber heute gibt es nur eins, was man ihm zurufen sollte, wo immer er jetzt auch ist: Danke Kanzler!




Neues Erkenntnisse zum Stand der deutschen Einheit

von KLAUS KELLE

Sie müssen sich den Bahnhof von Bad Blankenburg ungefähr so vorstellen wie den in der Eingangssequenz des Films „Spiel mir das Lied vom Tod“… nur mit Sonne. Heute Morgen dichter Nebel über der thüringischen Provinz, man ahnt nur, dass irgendwo hinter der grauen Wand noch etwas sein muss, vielleicht sogar Zivilisation.

Da auf den zwei…nennen wir es Bahnsteigen kein Fahrkartenautomat zu finden ist, spreche ich einen jungen Mann in Sprachweite an, einer von insgesamt vier Männern, die hier scheinbar auf den Zug nach Erfurt warten. Wo ich denn ein Ticket für die Fahrt erwerben könne, will ich wissen und erfahre: „Hier gibt es schon seit Jahren keine Automaten mehr.“ Als die Deutsche Bahn abgezogen sei, habe sie auch ihre Automaten mitgenommen. Nun fahre hier nur noch die Süd-Thüringen-Bahn, ein sogenannter Regionalzug. Die hätten einen Automaten im Triebwagen, den man allerdings nur mit Bargeld bedienen könne. Ein zweiter junger Mann kommt zu uns und fragt, wann denn wohl ein Zug komme. Beide waren seit 8.15 Uhr da, um mit der Regionalbahn um 8.21 Uhr nach Erfurt zu fahren. Doch der Zug sei nicht gekommen, einfach so. Auch der eigentlich fällige Zug in Gegenrichtung sei nicht gekommen, es habe aber auch keine Durchsage gegeben, obwohl es einen kleinen grauen Lautsprecher gibt. Die beiden anderen Männer im Hintergrund mit leicht heruntergekommener Bekleidung sagen nichts und starren weiter in den Nebel. „Wir erleben gerade einen der vier Hauptfeinde des Sozialismus“, sagt der neben mir „…den Herbst.“

Wir alle warten nun auf den Zug um 9.21 Uhr. Mein Leidensgenossene neben mit sagt: „Wenn der auch nicht kommt, dann rufe ich meine Frau an.“ Der andere: „Meine Tochter wartet in Erfurt am Bahnhof auf mich, aber ich hab mein Handy nicht dabei.“

Der erste meiner Gesprächspartner, so um die 40 mit Wollmütze, Typ Rüdiger Hoffmann, vertieft sich wieder in sein abgewetztes Buch. „Entschuldigen Sie, darf ich fragen, was sie da lesen“, spreche ich ihn an und er zeigt mir den Titel „Einführung in die marxistisch-leninistische Philosophie“, ein Staatsbürgerkunde-Schulbuch aus der DDR von 1983. „Träumen Sie noch immer von der guten alten Zeit“, will ich von ihm wissen, doch er erfüllt das Klischee nicht. „Ich bin Chefarzt und komme aus Soest“, erzählt er und erinnert mich in seinem Sprachfluß unwillkührlich wieder an den Kabarettisten Rüdiger Hoffmann aus Paderborn. Das ist nicht weit entfernt von Soest im Sauerland und ich bekenne: „Ich stamme aus Lippe, auch aus Ostwestfalen. Schon irre, dass wir uns hier im Nebel auf einem Bahnhof ohne Fahrkartenautomat kennenlernen.“ Er sagt, ich solle mir wegen der Fahrkarte keine Sorgen machen. „Die kontrollieren hier nie.“

9.19 Uhr, die Männer um mich herum greifen nach ihren Taschen und Rucksäcken. „Vielleicht kommt ja jetzt ein Zug, da muss ich vorbereitet sein“, sagt einer. Mehr Defätismus geht nicht… Der Zug kommt, bzw. das was man hier für einen Zug hält: ein Triebwagen. Der ist überfüllt, aber mein neuer Freund und ich quetschen uns auf zwei Sitze gegenüber fremdländisch aussehenden Neubürgern, die man auch hier in großer Zahl trifft. Ich erzähle, dass ich am Abend zuvor bei einer christlichen Konferenz in Bad Blankenburg gewesen sei, dem wichtigsten Zentrum der Evangelikalen in Deutschland.

Auf der andere Seite des Ganges in unserem Triebwagen (schönes Wort eigentlich) sitzt ein junger Mann, der recht müde aussieht mit einer 500-Gramm-Plastikdose mit türkischem Naturjoghurt. Er schaut zu mir rüber, schaut auf sein Smartphone, wieder zu mir, wieder auf sein Smartphone und sagt dann „Klaus…?“ Ich überlege kurz, ob ich tatsächlich so heiße, denn ich habe ihn noch nie zuvor getroffen. Nachdem ich zögernd genickt habe – man weiß ja nie – stellt er sich als Ralf, ein Facebook-Freund vor. Als er seinen vollen Namen nennt, weiß ich tatsächlich wer er ist, er postet viel und ich erinnere mich, dass er ein sympathischer Typ ist. Ich freue mich ehrlich, dass wir uns mal persönlich kennenlernen, auch wenn es fahrend in einem übervollen Triebwagen ist. Der Zug hält, Ralf steigt aus, er ist DJ und kommt von der Schicht im vermutlich einzigen Club von Bad Blankenburg. Wir verabschieden uns herzlich, guter Typ. „Hier gibt es eine Pizzeria, aber die Pizza schmeckt nicht…“, sagt mein neuer Freund aus Soest neben mir. Diese Fahrt werde ich nie vergessen, wir lachen viel. „Aber es gibt hier eine Eisdiele, die ist sehr gut. Wenn Sie mal wieder hier sind…“ Ich halte das für unwahrscheinlich. Bis Erfurt erzählt er mir Geschichten aus dem real existierenden Osten, der ja nun eigentlich der Westen ist. Auch in Erfurt gibt es eine gute Eisdiele, die ich mal besuchen soll. „Riva“ heißt die, und die Chefin dort könne noch viel launigere Anekdoten erzählen als er. Also wenn ich mal wieder in der Nähe sei… Wir sind fast in Erfurt, von dort geht es rüber. Einen kurzen Blick darf ich noch wagen in das Buch meines amüsanten Gesprächspartners. Ich lese „Der dialektische und historische Materialismus – untrennbarer Bestandteil der Weltanschauung der Arbeiterklasse…“ Ja, so ist das wohl hier…