Ein Narrenschiff auf großer Fahrt

Ganz ehrlich: Mein Publizistenleben überfordert mich im Moment. Ich musste mich geradezu zwingen, mit meiner neuen Kolumne zu beginnen. Ich mag nicht mehr über das Thema Flüchtlinge schreiben, aber man kommt nicht darum herum. Ich mag nicht mehr den Zusammenhalt unseres Landes beschwören, denn den gibt es nicht mehr. Sie werden sagen: es gab immer Leute, die etwas zu meckern hatten. Doch das hier ist anders. Zeitung zu lesen, Fernsehen zu schauen, ja selbst bei meinen Freunden in Facebook unterwegs zu sein, was ich wirklich gerne tue, macht mir zur Zeit nur noch wenig Spaß. Durch unsere Gesellschaft geht ein Riss, wie ihn Deutschland seit dem Kampf um die Ostpolitik von Willy Brandt nicht mehr erlebt hat. Zwei große Lager standen sich damals fast unversöhnlich gegenüber. Die einen waren überzeugt, Brandt, Wehner und Bahr würden uns „an die Russen verkaufen“. Die anderen bejubelten kritiklos nahezu jede Preisgabe westlicher Positionen in der Zeit des Kalten Krieges. Es gab Demonstrationen, sogar Handgreiflichkeiten, die „Aktion Widerstand“ veranstaltete Großkundgebungen. Man hatte nicht das Gefühl, dass da Leute zusammen in einem Land leben wollten.

Heute ist es wieder so, vielleicht sogar intensiver als damals. Begonnen hat es nicht erst mit den Flüchtlingen. Fast hat man das Gefühl, die Parteien sind irgendwann aus dem politischen Geschäft ausgestiegen. Keine klaren Aussagen mehr, keine eigenen, durchdachten Konzepte, kaum erkennbares Interesse daran, was ihre Wähler bedrückt, es ist gespenstisch. Am Mittwoch war die Bundeskanzlerin im Fernsehen. Vorwärtsverteidigung, so nennt man das wohl. Irgendwer im Kanzleramt muss ihr bei der Morgenlage zugeraunt haben, dass die Stimmung im Volk schlechter wird. „Frau Bundeskanzlerin, sie müssen jetzt etwas tun….“ So ähnlich wird es geklungen haben. Und so setzte sie sich also gegenüber von Anne Will und erklärte ihre Sicht der Dinge. Obwohl ich schon lange keine Merkel-Fan mehr bin, stehe ich zu meiner Ansicht, dass sie sich ordentlich geschlagen hat. Zwei minus, würde ich unter die Klassenarbeit schreiben. In den sozialen Netzwerken ging es nach der Sendung erst noch halbwegs zivilisiert zu, wenngleich unterschiedliche Meinungen deutlich aufeinander prallten. So soll es sein in einer Demokratie. Aber am Tag danach hatte ich den Eindruck, im Irrenhaus sei Tag der offenen Tür. In gleich mehreren Zeitungen bekundeten politisch linksgestrickte Journalisten, sie hätten Merkel noch nie gewählt, aber jetzt sei sie #meinekanzlerin. Von „Befreiungsschlag“ fabulierten Analysten und davon, dass sie wieder kraftvoll zurückgekehrt sei. Bei online-Abstimmungen sagten dagegen 86 bis 90 Prozent, Merkel sei eine einzige Katastrophe gewesen. Ich wurde auch verschiedentlich von FB-Freunden aufgefordert, unbedingt bei dieser oder jener Abstimmung gegen Merkel zu stimmen. Ich habe mich kurz gefragt, ob ich auch Aufrufe von CDU-Freunden bekommen würde, Merkel per Abstimmung ganz toll zu finden. Aber dann fiel mir wieder ein, dass die CDU ja das Kämpfen verlernt hat, und es kam auch tatsächlich nichts.

In Dresden verzeichnet derweil Pegida wieder starken Zulauf, in Erfurt trommelt die AfD 8.000 Anhänger zusammen, um die Kanzlerin aufzufordern, sich doch einen anderen Job zu suchen. Im Fernsehen kanzelt ein unerträglich arroganter Verlegersohn-Schnösel eine junge Polizistin ab, die von ihrem unerfreulichen Alltag mit vorzugsweise jungen Muslimen berichtet. Weitergezappt! Auf N24 ist Michel Friedman mit einem Kamerateam unter Flüchtlingen unterwegs. Es war wirklich spannend, zu hören, was einige von ihnen über ihr Leben und ihre Motivation, nach Deutschland zu kommen, erzählten. Weitergezappt! Polizisten führen einen grinsenden Asylbewerber ab, der sich in einer Flüchtlingsunterkunft geprügelt hat. Es war wohl sogar noch etwas bunter, insgesamt 60 Beamte mussten anrücken, erfahre ich. Auf Facebook vergleichen zum wiederholten Mal Menschen, die mit ihren Sorgen ernst genommen werden möchten, Merkel mit Hitler. Ja, mit Hitler. Manchmal ist man einfach nur sprachlos, einmal wegen des widerlichen und sowieso unhistorischen Vergleichs an sich, aber auch, weil dieselben Leute immer beklagen, dass man ja in der politischen Auseinandersetzung stets einen mit der „Nazikeule“ übergebraten bekomme. Nicht ganz zuende gedacht, würde ich meinen.

Ich könnte noch eine Stunde weiter Erlebnisse und Momentaufnahmen aus dem Tollhaus erzählen, aber ich mag Sie, meine geschätzten Leserinnen und Leser, nicht langweilen. Doch ich möchte nochmal daran erinnern: Unser gemeinsames Land befindet sich in einer komplizierten, wahrscheinlich sogar gefährlichen Situation. Nicht wegen der Kosten, das wuppt Deutschland allemal, aber wegen des in Teilen unkontrollierten Zustroms Hunderttausender Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis. Die integriert man nichtmal einfach so nebenbei, das ist ein langer Prozess – und der sollte übrigens wirklich nur denen offenstehen, die ein Recht darauf haben, bei uns Schutz und Aufnahme zu erhalten. Es gibt irre viel zu tun, das ist ein Prozess, der die ganze Gesellschaft beeinträchtigt und herausfordert. Und was passiert hier? Manchmal kommt man sich vor wie an Bord der „Vera“ im berühmten Roman vom „Narrenschiff“, wo alle Arten von Charakteren und Ethnien auf engstem Raum beisammen sind, und von Tag zu Tag eine unangenehme und aggressive Gereiztheit zunimmt, die schließlich alle erfasst…