Nach der Schlacht ist vor der Schlacht: Lehren aus der Brexit-Wahl
Großbritannien wird die Europäische Union (EU) verlassen. Erstaunlich viele Menschen haben bis vor wenigen Tagen immer noch daran geglaubt, dass der Brexit irgendwie noch verhindert werden könnte. Mit dem erdrutschartigen Sieg des Konservativen Boris Johnson bei der Unterhauswahl sind die Zweifel wirklich auch beim letzten EU-Fan zerstoben. Das ist erstmal eine schlechte Nachricht für die deutschen Medien, die wie so oft statt nüchterner Berichterstattung ihrer Hoffnung Ausdruck verlieh, Johnson könne auf den letzten Metern noch abgefangen werden. Pustekuchen! Wie 2016 bei Trump hatten die (noch) meinungsführenden Medien in Deutschland Augen, um zu sehen, und Ohren, um zu hören. Aber sie wollten weder sehen noch hören und stehen nun wie häufig in jüngster Vergangenheit blamiert da.
Dumm aus der Wäsche schaut aber auch das internationale politische Establishment, in dem viele immer noch nicht für möglich halten, dass sie sich inmitten erratischer, wenn nicht revolutionärer, Veränderungen befinden, die unser politisches System bis ins Mark erschüttern können.
Bei Wahlen in den westlichen Demokratien haben in den vergangenen Jahren Millionen Wähler etablierter Parteien ihren Unmut deutlich zum Ausdruck gebracht. Denken Sie an Österreich und Italien! Denken Sie an die Erfolge (vereinzelt) linker und (vieler) rechter Populisten, denken Sie an die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Wir erleben seit drei, vier Jahren allerorten einen Aufstand gegen das Establishment, ein Abwenden von den lange respektierten, ja sogar verehrten Eliten. Und es hat gerade erst begonnen. Schauen Sie sich das Wahlverhalten in Ostdeutschland an! Als die Unzufriedenheit wuchs, wählten Ostdeutsche zunehmend wieder die SED-Nachfolger, weil sie damit größtmögliches Entsetzen beim politischen Establishment auslösen konnten. Inzwischen wechseln diese Wähler zu Hunderttausenden von der extrem linken SED/PDS/Linke direkt zur (dort vielfach) extrem rechten AfD. Ganz egal was, aber bloß nicht mehr die alten Eliten. Ein faszinierender politischer Prozess, aber auch ein gefährlicher.
Auch die etablierten Parteien in Deutschland sind vollkommen unfähig, angemessen auf die Herausforderungen zu reagieren und das Ruder herumzureißen. Vorbei an dem Themen, die die Bürger umtreiben und ängstigen, im Irrglauben, selbst noch entscheiden zu können, welche politischen Prozesse längst in Bewegung geraten sind.
Dieses Land war seit Gründung der Bundesrepublik ein Hort der Stabilität, langweilig aber sicher und wohlhabend. CDU/CSU, SPD und FDP haben daran zweifellos einen entscheidenden Anteil. Doch nun droht Ihnen die Deutungshoheit und damit die Macht zu entgleiten. Der Totalabsturz der SPD ist kein Grund zur Freude, wenn man es gut mit unserem Land meint. Aber er ist selbstverschuldet. Und die Führung der Union ist auf dem gleichen Weg und verweigert sich den Realitäten. Eine Mischung aus Ignoranz, Selbstverliebtheit und Arroganz gegenüber dem, was ihre Wähler erwarten. Erwartet haben.
Doch zurück zu dem konservativen Boris Johnson aus Downing Street No. 10, der wie in Deutschland zuletzt Gerhard Schröder um einer als richtig erkannten Sache alles auf eine Karte gesetzt hat. Was sagte Angela Merkel noch am Tag nach der schlimmsten Wahlniederlage ihrer Partei seit 1949? „Ich wüsste nicht, was ich hätte anders machen können.“ Später werden Historiker Bücher darüber schreiben, wie es möglich war, dass diese Frau die große Volkspartei Adenauers und Kohls übernehmen und deraßen in die falsche Richtung drehen konnte.
Großbritannien macht es vor, wie ein EU-Land aussteigen kann. Und Großbritannien ist wirtschaftlich stark, es wird auch weiter ein ökonomisher Riese bleiben. Gerade hat Donald Trump den Briten ein Handelsabkommen mit der größten Wirtschaftsmacht auf diesem Planeten angeboten. Ökonomisch wird da nichts anbrennen, da bin ich sehr sicher. Und die Unzufriedenheit unter den osteuropäischen Mitgliedsländern der Gemeinschaft wächst von Tag zu Tag.
Die Probleme bei den Briten aber kommen aus dem Innern. Schon kündigt die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon einen formellen Antrag auf ein neues Referendum mit dem Ziel der Unabhängigkeit Schottlands an. Ihre Schottische Nationalpartei gewann bei der Parlamentswahl gerade 48 der 59 Parlamentssitze Schottlands. Sieht aus, als müsste Boris Johnson schon bald in eine neue große Schlacht ziehen….