10.000 Patienten warten in Deutschland auf ein Spenderorgan – doch es gibt keine einfachen Lösungen
Ich muss gestehen, dass mir allein die Formulierung „Organe werden entnommen“ einen Schauer über den Rücken jagt. Ein – bestenfalls toter – Mensch wird aufgeschnitten, und man entnimmt ihm oder ihr gesunde Organe, um diese anderen Menschen, die schwer krank sind, einzusetzen und damit ihr Leben zu retten. Was ja erstmal etwas Gutes ist.
Aber so einfach ist es eben nicht. In Zeiten, in denen Schwarz-Weiß-Denken in Deutschland wieder hoch im Kurs steht, sind die Experten auf dem Twitter– oder Facebook-Stammtisch mit einfachen Lösungen und klaren Meinungen leicht bei der Hand. Ich selbst frage mich schon länger, ob ich meine Organe spenden würde, sofern einige noch brauchbar wären und ich wirklich tot bin, wenn sie entnommen werden. Aber nicht einmal das, kann mir jemand verlässlich versprechen. Immer wieder kommt es vor, dass Menschen von Ärzten für hirntot erklärt werden und dann plötzlich und unerwartet aufwachen. Und weiterleben. So wie 2012 eine 19-jährige Dänin, die nach einem Autounfall schwer verletzt in die Uni-Klinik in Aarhus eingeliefert wurde. Die Oberärztin wurde damals in Medien zitiert:
„Sie hat eine sehr schwere Hirnverletzung. Falls sie überlebt, dann mit so schweren Behinderungen, dass sie für immer ein schwerer Pflegefall sein wird.“
Der verzweifelten Mutter sagte die Medizinerin, dass es keinerlei Hirntätigkeit mehr gtebe. Wörtlich:
„Es schaut schlimm aus, und für ihre Tochter kann ich nur hoffen, dass sie nicht überlebt.“
Die Eltern willigten ein, dass die Herz-Lungen-Maschine abgestellt wurde. Doch Carina atmete selbständig weiter und begann leise zu jammern. Ein Arzt untersuchte die junge Frau und tellte fest, dass ein ungewöhnlicher Bruch im Schädelboden dafür gesorgt hatte, dass der Druck im Hirn ausgeglichen wurde und kein Hirntod eintreten konnte. Carina wurde operiert und konnte drei Wochen später das Krankenhaus verlassen in ihr völlig normales junges Leben.
Keine Verschwörungstheorie, sondern alles bestens belegt. Das dänische Fernsehen sendete eine Dokumentation über den Fall, der an ein echtes Wunder grenzt. Ein Einzelfall? Experten widersprechen, aber natürlich passiert so etwas auch nicht jede Woche. Wo ist also die Grenze? Wie hoch liegt die Messlatte dessen, was man für einen guten Zweck riskieren darf?
Wie sicher ist ein Hirntot feststellbar? Wie sicher ist, dass ein hirntoter Patient, dem Organe „entnommen“ (was für ein furchtbares Wort) werden, auch wirklich hirntot ist? Wer prüft die Motive der Angehörigen, die eine solche Entscheidung stellvertretend treffen? Und überhaupt: Sollten Menschen nicht grundsätzlich sowohl natürlich entstehen als auch auf natürliche Art diese Welt wieder verlassen, wie Christen hier einwänden würden?
Solche Fragen können nicht mal einfach so entschieden werden. Da sind viele Aspekte, die in der öffentlichen Diskussion viel zu kurz kommen, wie zum Beispiel das Geschäft mit dem Tod. Der Handel mit Organen ist ein gewatiges Geschäft. Der illegale weltweite noch viel mehr, aber auch der legale in Länderm wie unserem. Geht es allen Profiteuren wirklich nur darum, menschlich zu handeln? Oder geht es um Bankkonten?
Keine leichte Frage, über die die Abgeordneten des Deutschen Bundestages jetzt entscheiden werden. Die Frontlinien verlaufen kreuz und quer, die Debatte wird leidenschaftlich sein, was man nicht immer vom Hohen Haus sagen kann. Aber hier geht es eben um Leben und Tod, nicht mehr und nicht weniger. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat das Gesetz eingebracht, seine Kollegin Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) hat angekündigt, gegen Spahns Entwurf zu stimmen.
Und ein Wort noch zu Jens Spahn, der seit Monaten viel gescholten wird, einfach weil er viele Probleme anfasst, um die sich schon seine Vorgänger hätten kümmern müssen. In Deutschland warten derzeit 10.000 Patienten auf ein Spenderorgan, im Durchschnitt sterben jeden Tag zwei, drei Menschen in Deutschland, weil sie kein passendes Organ bekommen. Das ist die andere Seite. Ein Bundesgesundheitsminister muss sich darum kümmern, Lösungen zu finden und vorzuschlagen, denn jeden Tag schreiben ihm Bürger, deren nächste Angehörige, deren Kinder im Sterben liegen und die dringend Hilfe brauchen. Und sie schreiben: „Tun Sie etwas, Herr Minister, um mein Kind zu retten…!“
Eins noch: Gebe ich später Organe von mir frei, wenn sie gebraucht werden? Ich weiß es ehrlich noch nicht. Aber klar ist auch, wenn ich das tue, will ich das selbst und bewusst entscheiden und auf keinen Fall durch eine Widerspruchsregelung zur…Entnahme… freigegeben werden.