Lieber auf hohe See als in einen deutschen Gerichtssaal

Derzeit lese ich ein Buch des früheren Bundesarbeitsministers Norbert Blüm. Es ist nicht der Sicherheit unseres Rentensystems gewidmet, sondern trägt den schönen Titel „Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten“. Und genau darum geht es. Stilistisch nicht unbedingt ein Reißer, bringt Blüm die Dinge dennoch auf den Punkt. Das System der Rechtsprechung in Deutschland entwickelt sich fragwürdig. Wohl motiviert durch unglaubliche Urteile an Familiengerichten nennt der Autor die Dinge beim Namen. Akribisch listet er Fälle auf, in denen Richter(innen) zu Verhandlungen völlig unvorbereitet erschienen und wohl nicht einmal die Akten gelesen hatten. Er wirft die Frage auf, inwieweit sich der ehrenwerte Beruf des Rechtsanwalts von einem Organ der Rechtspflege hin zu zu einer Abkassiermaschine entwickelt hat. Wird überhaupt noch Recht gesprochen, oder entscheiden Gutachter heutzutage Gerichtsverfahren (besonders im Familien- und Jugendbereich)? Ist das unbedingte Streben von Richtern(innen) nach Abschluss eines Vergleichs unserer Rechtsordnung dienlich? Vergleiche dienen ja sehr oft dazu, nicht im Detail verhandeln zu müssen und somit viel Arbeit vom Schreibtisch zu schaffen.
Wie steht es mit der Fairness gegenüber Prominenten bei Verfahren? Fragen Sie mal Herrn Kachelmann, der in Absprache mit Pressefotografen öffentlich vorgeführt wurde. Fragen Sie mal den früheren Postchef Zumwinkel, bei dem vor der staatsanwaltschaftlichen Hausdurchsuchung am frühen Morgen Übertragungswagen und Kamerateams vor dem Haus auffuhren. Woher, wenn nicht aus dem Justizapparat, wussten die Medien davon? Fragen Sie mal Uli Hoeneß, aus dessen Ermittlungsakten in Zeitungen breit zitiert wurde. Wo ist dessen Recht auf informationelle Selbstbestimmung, über das in diesem Land immer so laut und weinerlich lamentiert wird? Oder nehmen Sie den früheren Arcandor-Boss Thomas Middelhoff. Der sitzt inzwischen seit Monaten in einer Zelle, verhaftet noch im Gerichtssaal. Sein „Verbrechen“: Er hatte sich von seinem finanziell angeschlagenen Konzern Flüge in Privatjet und Hubschraubern bezahlen lassen. Schaden: ca. 500.000 Euro. Dafür gab es drei Jahre Haft, die aber noch nicht rechtskräftig sind. Dennoch sitzt er ein, weil die Richter Fluchtgefahr annehmen. Ein Freund von mir aus den Medien, der den Prozess intensiv verfolgt hat und Middelhoff persönlich kennt, schilderte mir letztens sehr überzeugend seinen Eindruck. Die arroganten Auftritte des stets braungebrannten und in Maßanzügen gewandeten Topmanagers vor Gericht hätten die Richter derart genervt, dass sie ein Exempel statuieren wollten. Richter mögen demütige und reuevolle Beklagte. „Ich bin der ideale Sündenbock“, hatte Middelhof mal über sich gesagt. Da ist etwas dran. Aber ist das Recht? Die jungen Männer, die im Oktober 2012 den 20-jährigen Jonny nachts auf dem Berliner Alexanderplatz totgeprügelt haben, stellten sich später bei der Polizei und gaben eine Aussage zu Protokoll. Dann durften sie bis zum Prozessbeginn nach Haus gehen. Die Richter sahen bei ihnen keine Fluchtgefahr, vielleicht weil sie keine Maßanzüge trugen. Der Hauptbeschuldigte setzte sich vor dem Prozess in die Türkei ab.
Mir geht es nicht darum, Prominente und ihre Taten zu beurteilen. Mir geht es um unser Rechtssystem insgesamt. Herr Kachelmann zum Beispiel ist freigesprochen worden. Er hat monatelang in U-Haft gesessen. Seine Ermittlungsakten wurden in Redaktionen herumgereicht, ganz Deutschland hat einen Einblick in seine vermeintlichen sexuellen Vorlieben und sein Liebesleben bekommen. Seine Firma hat die einträglichen Aufträge der öffentlich-rechtlichen Staatssendeanstalten verloren. Eine Rückkehr auf den Bildschirm in Deutschland bleibt Deutschlands einst beliebtestem Wetterfrosch verwehrt. Ist das Gerechtigkeit? Was nützt ihm sein Freispruch? Wer entschädigt ihn für die zerstörte Reputation, für seine Ehre? „Vor Gericht und auf hoher See sind alle Menschen in Gottes Hand“, so sagt der Volksmund. Wenn ich darüber nachdenke, erscheint mir eine Fahrt im Kutter auf hoher See häufig als die sicherere Variante.