Die Nato sendet eine Botschaft an den Kreml – zurückhaltend und klug

Das „Morning Briefing“ des Handelsblattes kommt immer passend per Mail zum Morgenkaffee bei mir und vielen anderen Lesern der Zeitung an. Chefredakteur Gabor Steingart schreibt immer ein paar Zeilen zu den wichtigen Themen des Tages, und in der Regel ist es geistreich, was er zu Papier bringt. Heute war das nicht so. Zur angekündigten Verlegung von insgesamt 4.000 Nato-Soldaten in die baltischen Staaten und nach Polen schreibt Steingart:

„Die Nato hat gestern beschlossen, 4.000 zusätzliche Soldaten in Osteuropa zu stationieren. Mit dieser so genannten „Vornepräsenz“ will man Putin beeindrucken. „Wir sind auf dem richtigen Weg“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Der Mann kennt offenbar nicht die Größe des Moskauer Militärapparats (etwa eine Million aktive Soldaten; 2,3 Millionen Reservisten) und versteht wenig von der Psyche der Russen.“

Ganz davon abgesehen, dass sich das westliche Verteidigungsbündnis bei Erfüllung ihrer Aufgabe keineswegs daran orientieren sollte, ob die russische Psyche gerade wohlgestimmt ist oder nicht, ist die Überlegung des Kollegen Steingart Milchmädchen-Strategie. Wer die Erklärung der Nato zu der Truppen-Verlegung gelesen hat, der sollte wissen, dass die Nato keineswegs vorhat, Putins Millionenheer mit 4.000 Soldaten im Ernstfall quasi zurückzuschlagen. Der Handelsblatt-Chef – bei allem Respekt – sollte bemerkt haben, dass die Maßnahme überaus klug ist. Denn das Bündnis verlegt, zunächst zeitlich begrenzt, multinationale Kontingente ins Baltikum und Polen. Soldaten aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den USA – militärisch ein anderes Kaliber als die zwar stolzen und freiheitsliebenden Kleinstaaten Litauen, Lettland und Estland. Und auch Polen. Ein russischer Angriff auf diese Soldaten wäre de facto ein Angriff auf diese – unsere – Länder, darunter drei Atommächte. Würde Putin das wagen? Die Nato ist etwas anderes als die völkerrechtswidrige Einverleibung der Krim. Tatsächlich ist die Entscheidung der Nato strategisch klug, vom Umfang her äußerst zurückhaltend und alles andere als ein kriegerischer Akt. Es ist nichts weiter als eine Botschaft an den Kreml, eine Grußkarte sozusagen. Liebesgrüße nach Moskau.




Neuer Angriff der „Freunde“ unseres Landes

Eine neue Hacker-Attacke auf Rechner von Parteien und Bundestag ist aufgeflogen. Abgeordnete und Mitarbeiter verschiedener Parteien erhielten am 15. und 24. August E-Mails, mit den Absender Nato-Hauptquartier. Wer den beigefügten Link anklickte, aktivierte eine Spähsoftware. Etwa zwei Wochen lang hatten Hacker Zugriff auf die infizierten Computer und sämtliche Dateien. Das Cyber-Abwehrzentrum der Bundesregierung hat die Fraktionen des Bundestages gestern ausführlich über den Angriff informiert. Offenbar gelang es dieses Mal – anders als in ähnlichen Fällen – die Attacke frühzeitig zu entdecken. Die deutschen Sicherheitsbehörden identifizierten die Angreifer als eindeutig in Russland ansässig. Klar, Russland meint es ja gut mit uns, wie ich in diesem Forum immer mal lese. Ein guter Freund der Deutschen sozusagen, ganz anders als die böse NSA der Amis. Wie naiv muss man eigentlich sein…




Warum mich die Olympischen Spiele 2016 nicht die Bohne interessieren

Falls Sie es noch nicht bemerkt haben: in Brasilien sind Olympische Spiele. Als ich ein kleiner Junge war, gab es außer der Fußball-Weltmeisterschaft nichts Größeres. Noch heute habe ich vor Augen, wie Ulrike Meyfarth zu ihrem Gold-Hochsprung anlief. Magische Momente, von denen mir viele noch heute mühelos einfallen, wenn ich die fünf bunten Ringe irgendwo sehe. Über die Jahre hat mein Interesse gelitten, gebe ich zu. Rhythmische Sportgymnastik, Dressurreiten oder Bogenschießen – das ist nicht wirklich meine sportliche Welt. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich zwei Tage vor Beginn einer Olympiade noch völlig desinteressiert sein konnte – wenn es dann losging und ich die ersten Wettkämpfe im Fernsehen sah, sprang der Funke über. Egal was gerade lief – ich war bis weit nach Mitternacht dabei.

Diesmal ist es anders. Das schillernde bunte Eröffnungsfest in Rio, die Sportler aus aller Welt, das Entzünden der Fackel – es erhöht meinen Blutdruck nicht eine Sekunde. Bundespräsident Gauck ist nicht nach Rio gereist (Krankheit), Bundes-Sportminister de Maiziere hat wegen anderer wichtigen Termin abgesagt. Und mich interessiert das Spektakel in Südamerika nicht die Bohne.

Wie kommt das eigentlich, habe ich mich gefragt. Sport interessiert mich immer noch sehr, der Kampf der Besten aus allen Ländern der Welt um Medaillien und Ruhm müsste mich eigentlich faszinieren, in einen Rausch versetzen. Doch da ist nichts.

Ich glaube, es liegt an den Begleitumständen, an den Berichten, die vielen Sportfreunden den Spaß an der Sache verleiden. Epidemieforscher haben gewarnt, dass die Olympischen Sommerspiele die Ausbreitung des Zika-Virus über den ganzen Globus vorantreiben könnte. Die brasilianische Regierung riet schwangeren Frauen sogar davon ab, nach Brasilien zur Olympiade zu kommen. Und dann die hohe Kriminalität in Rio, eine latente Gefahr für jeden Besucher. Gestern Morgen hörte ich im österreichischen Radio ein Interview mit einer Wassersportlerin, die in Rio ist. Sie berichtete von Müll, der im Wasser schwimme und von Papierfetzen, die aussähen, als seien sie Klopapier. Die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) hatte 2015 die Wettkampfstätten der Freiwasserschwimmer, Kanuten, Ruderer, Segler, Triathleten und Windsurfer vom Virologen Fernando Spilki untersuchen lassen. Sämtliche untersuchte Austragungsorte wiesen eine derart schlechte Wasserqualität aus, dass sie die Gesundheit der Athleten gefährden und Krankheiten wie Durchfall, Erbrechen und Atemwegserkrankungen auslösen können.

Und dann das Theater um Russland, das als Land eine Goldmedaille für dreistesten staatlich organisierten Doping verdient hätte. Dutzende wurden gesperrt, viele durften hin – nur nicht diejenige, die die skandalösen Machenschaften in Putins Reich aufgedeckt hatte. Die sperrte man vom Wettkampf aus – gleich für zwei Jahre. Ausgerechnet sie wurde gesperrt, weil sie früher Teil des Doping-Kartells in Russland war. Nehmen wir mal an, es wäre in Finnland oder Nigeria aufgeflogfen und nachgewiesen worden, dass bewusst und gewollt Heerscharen von Sportlern für Wettkämpfe fittgespritzt wurden. Was hätte das IOC getan? Jede Wette: diese Länder, diese Mannschaften wären für die Olympiade gesperrt worden. Aber wie schon George Orwell in seinem berühmten Roman „Animal Farm“ schrieb: „Alle Schweine sind gleich, aber einige sind gleicher als andere.

Und Thomas Bach, ein persönlicher Freund von Kreml-Chef Putin, der den meisten russischen Sportlern den Zugang zu den Olympischen Spielen in Brasilien geebnet hat? Bach ist eine Schande für den internationalen Sport.




Zu wenig Geld, zu wenig Realitätssinn – die NATO steht vor einem Umbruch

Das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung in Brüssel ist eine eher kleinere Einrichtung, die man neudeutsch als „Think Tank“ bezeichnen darf, und die der FDP nahe steht. Gestern jedoch ist dem Leiter des Büros, Hans H. Stein, etwas Besonderes geglückt. Sechs Wochen vor dem NATO-Gipfeltreffen der Staatschefs von 28 Ländern in Warschau hatte er 150 Teilnehmer zu einem – auch neudeutsch – „Pre-Summit Briefing“ versammelt. Dazu als Diskussionsteilnehmer den amerikanischen NATO-Botschafter Douglas E. Lute, den deutschen NATO-Botschafter Dr. Hans-Dieter Lucas, aus Polen den Politologen und liberalen Politiker Dr. Bartolomiej E. Nowak und ebenfalls aus Polen Renata Zaleska, NATO-Expertin für Afghanistan. Besonders ist das, weil es die einzige größere Veranstaltung dieser Art im Zentrum der EU zu diesem Thema vor dem überaus wichtigen Treffen in Warschau ist.

Der NATO-Gipfel am 8. und 9. Juli wird eine Zäsur des westlichen Verteidigungsbündnisses bringen, da waren sich die Diskussionsteilnehmer einig. Der deutsche Botschafter Hans-Dieter Lucas sprach gar von „fundamentalen Fragen der Verteidigungsfähigkeit“ Europas. Ja, das Bündnis, das 40 Jahre lang Frieden und Freiheit in Europa gesichert hat, ist träge geworden in den Jahren nach dem Kalten Krieg. Eine neue Ära wollte man nach den Umbrüchen 1989 und 1990 entdeckt haben. Wir alle sind fortan Freunde, auch die früheren Gegner aus den Warschauer Pakt-Staaten um Russland, die zu einem beachtlichen Teil selbst in das Lager des Westens „rübermachten“.

„Out of Area“ lautete in den folgenden 25 Jahren die Marschrichtung. Der Krieg auf dem Balkan, Afghanistan, wo bis heute 13.000 Soldaten der NATO-Staaten im Einsatz sind, beschäftigten und beschäftigen die Bündnis-Manager. Doch nun ist eine neue Phase angebrochen. Flüchtlingskrise, Internationaler Terrorismus, der längst kein regionales, sondern ein globales Problem ist, und die neue aggressive Politik Russlands sind die neuen Herausforderungen für das Bündnis. Und das vor dem Hintergrund dramatischer Budget-Kürzungen der Mitgliedsstaaten, von denen kein einziger die finanzielle Selbstverpflichtung des vergangenen Gipfels in Wales 2014 eingehalten hat. Dougles Lute appellierte an die Staaten der NATO, angesichts zunehmender Instabilität und dem „aggressiven Nachbarn im Osten“, mehr Geld aufzuwänden, um das Büdnis zu modernisieren, aber nicht zu einem Kalten Krieg zurückzukehren.

Es war Bartolomiej E. Nowak von der größten polnischen Oppositionspartei, der Salz in die Suppe der Harmonie schüttete. Verständlich, den Polen ist direkter Nachbar Russlands und hat daher eine andere Sichtweise auf die Dinge als Paris oder Washington. „Ich würde begrüßen, wenn Russland unser Partner wäre“, bekräftigte er, aber „Russland hat alle Regeln gebrochen, die ein Land überhaupt brechen kann. Und das verlangt nach einer Antwort.“ Was bedeuten die Solidaritätsbekundungen praktisch für die baltischen Staaten und Polen? Wie muss die NATO auf den hybriden Krieg reagieren, den der Kreml heute bereits aktiv führt? Durch Cyber-Attacken gegen westliche Regierungen und übrigens auch gegen politische Stiftungen in Brüssel. Durch „Touristen“, die ohne Hoheitsabzeichen an ihren Uniformen in Nachbarländer einmarschieren? Die mit Desinformationen die Öffentlichkeit in den westlichen Ländern verunsichern wollen. Auch eine junge Frau von einer ukrainischen Lobby-Organisation bei der EU spitzte die Ängste der russischen Nachbarstaaten zu. „Es wäre gut, wenn man in Europa nicht einem Wunschdenken folgt, sondern endlich beginnt, die Wirklichkeit anzuerkennen.“

Der NATO-Gipfel in Warschau wäre der richtige Zeitpunkt, damit anzufangen.




fortiter in re suaviter in modo

Ich weiß nicht, ob es gezielte Provokationen oder einfach Dusseligkeit ist, mit der der Westen Russland immer wieder brüskiert. Als US-Präsident Obama nach der Okkupation der Krim und der Invasion russischer Söldner und Waffen in die Ostukraine die Russische Föderation als „Regionalmacht“ bezeichnete, war das so ein Moment, wo die Vereinigten Staaten herablassend gegenüber Putin auftraten. Heute ist nun Russlands Außenminister Sergej Lawrow wieder richtig schlecht gelaunt. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat nämlich heute Mittag in Brüssel öffentlich angekündigt, man werde den NATO-Russland-Rat einberufen, um das Verhältnis zu verbessern. Das verschlechterte sich sogleich, da nur beide Partner zusammen den Rat einberufen können. Lawrow sauer: „Wenn sie es besprechen wollen, dann mit uns und nicht durchs Mikrofon.“

Ich weiß nicht, ob diese Nickligkeiten sein müssen. Deutschland und Europa haben ein großes Interesse an einem vernünftigen Verhältnis zur Atommacht im Osten. Miteinander reden wäre da das Mindeste. Genau genommen müssten die Strategen auf beiden Seiten begreifen, dass viele Probleme besser gemeinsam gelöst werden könnten. Der Kampf gegen den IS und der internationale Terrorismus sind solche Probleme, wo Russland und der Westen und auch China an einem Strang ziehen sollten. Stattdessen Säbelrasseln, Luftraum-Verletzungen, militärische Provokationen.

Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier hält übrigens unermüdlich den Kontakt zu Moskau und wirbt darum, auch über unterschiedliche Sichtweisen miteinander zu reden – „auch wenn diese vorerst nicht gelöst werden können.“ Er macht derzeit einen guten Job.




Wie ich langsam zum Zyniker werde

In der vergangenen Woche berichteten Medien kurz und ohne große Aufregung darüber, dass es einen Hackerangriff gegen die CDU-Parteizentrale in Berlin gab. Großen Schaden habe es nicht gegeben, und ehrlich: Was sollte mal als moderne Volkspartei der Mitte auch geheim halten müssen, wenn man eigene Politikkonzepte gar nicht mehr entwickelt? Interessant war für alte Kalte Krieger wie mich lediglich die Information einer Sicherheitsfirma, dass es wohl russische Hacker waren, die es auf Angela Merkels Geheimnisse abgesehen hatten. Die Hacker-Gruppe, die gegen die CDU und zuvor auch schon gegen die Bundestagsverwaltung vorgegangen war, firmiert übrigens unter „Sofacy“ oder „APT28“, falls Sie die mal in Ihrem Mailordner entdecken.

Was ich interessant finde, ist, wie unaufgeregt dieses Land und seine Bürger angesichts des Vorgangs geblieben ist. Erinnern Sie sich noch an den „Lauschangriff“ der amerikanischen NSA auf das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin? Der große Bruder von der anderen Seite des Atlantiks hört uns ab. Ooooooohhhh…. da war was los. Leitartikel überall, die BILD-Zeitung veröffentlichte eine Grafik in Farbe, wie vom Dach der US-Botschaft aus gespitzelt wurde oder wird. Und ein Untersuchungsausschuss wurde eingesetzt, die schärfste Sanktion, die das moderne Deutschland heutzutage noch gegen Spione verhängt. War da eine Aufregung im Lande. Fast wie über TTIP.

Doch dieses Mal ist Ruhe im Land. Niemand fordert einen Untersuchungsausschuss wegen des unverschämten Vorgehens Russlands. Keine BILD-Zeitung zeigt Grafiken, wie russische Hacker unser Land und seine Institutionen angreifen. Ich glaube, das hängt einfach damit zusammen, weil Russland unser Freund ist.

Übrigens: die Idee zu diesem Thema hatte mein Freund und Blogger Martin D. Wind – lesen Sie ruhig auch mal bei ihm rein. Aber vorsicht: er ist katholisch! www.disputata.de




Die Ukraine hat gewonnen – wenn auch erstmal nur beim Singen

Was viele Menschen nicht wissen: Auch Journalisten haben Gefühle. Am ersten Weihnachtstag 1979 marschierte die Armee der gern von ihr selbst und nur von ihr selbst „friedliebend“ genannten Sowjetunion in Afghanistan ein. In den folgenden Monaten gab es ein Eishockeyspiel zwischen der favorisierten Sowjetunion und der USA. Ich weiß nicht mehr, was der Anlass dieses sportlichen Kräftemessen war. Aber ich kann mich noch an die Fernhsehbilder erinnern, als hätte ich sie gestern Abend gesehen und nicht vor 36 Jahren. Eishockey ist ein Sport, bei dem es ordentlich zur Sache geht. Körperkontakt ist erwünscht und die Schutzanzüge sind aus gutem Grund dick gepolstert. Das Spiel war mitreißend, von deutlicher Aggressivität geprägt, und überraschenderweise gewannen die noch vergleichsweise unerfahrenen Amis das Spiel. Das Bemerkenswerte dabei war, mit welcher Leidenschaft beide Mannschaften zur Sache gingen, Spieler wurden über die Bande geschmissen, man hatte nicht das Gefühl, dass es hier um einen sportlichen Wettbewerb ging. Es ging um Politik.

So wie gestern Abend beim europäischen Gesangswettbewerb ESC. Gewinnerin wurde die Sängerin Jamala, die eigentlich Susana Dschamaladinowa heißt. Sie kam 1983 in Kirgisien zur Welt, und ihr Siegerlied „1944“ handelt von der Vertreibung ihrer Urgroßmutter, die zur tatarischen Bevölkerungsgruppe gehörte, nach Zentralasien. Auf Befehl Stalins. Vertreibung von der Krim. Nichts gegen das Lied an sich, aber man muss ziemlich naiv sein, zu glauben, das Ergebnis der Entscheidung des europäischen Publikums gestern Abend sei das eines Komponistenwettbewerbs gewesen. Zu unübersehbar sind die Bezüge zur aktuellen Situation der geschundenen Ukraine, zur von Russland wieder einverleibten Krim, von rund 7.000 toten Ukrainern, getötet von russischen Söldnern mit russischen Waffen in ihrem eigenen Land. Ich habe keinen Zweifel, dass sich besonders viele Osteuropäer gestern vor den Fernsehgeräten ähnlich gefühlt haben wie ich. Die Ukraine hat gewonnen. Mit Gesang, nicht mit Gewehren und Panzern. Mit Gewalt könnten sie es nicht schaffen gegen den osteuropäischen Hegemon, der das Völkerrecht nach Belieben mit Füßen tritt. Aber mit etwas Belanglosem, wie einem internationalen Schlagerwettbewerb, bei dem das immer gern zitierte „Volk“ gezeigt hat, wie es denkt und fühlt. War ein schöner Abend gestern. Journalisten haben eben auch Gefühle.




Spiel mit dem Feuer

Keine außenpolitischen Floskel ist derart abgegriffen wie „Der Nahe Osten ist ein Pulverfass, da genügt ein Funke“. Heute hat die Welt einen Vorgeschmack darauf bekommen, was so ein Funke sein könnte. Die Türkei hat ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen, weil es angeblich in ihren Luftraum eingedrungen ist. Russland bestreitet dies, der Jet sei nur über syrischem Gebiet unterwegs gewesen. Müßig, darüber zu spekulieren, wer die Wahrheit sagt. Vielleicht werden wir es irgendwann erfahren, vielleicht auch nicht.

Einer der beiden Piloten des russischen Flugzeugs konnte sich glücklicherweise retten, so dass dieser Zwischenfall wohl nicht zu einer Eskalation führen wird, sondern unter Blechschaden abgelegt werden kann. Die Reaktionen sind vorhersehbar. Russland wird den türkischen Botschafter einbestellen, US-Präsident Obama wird sein tägliches Golfspiel für ein paar Minuten unterbrechen und seiner Betroffenheit Ausdruck verleihen, und Verschwörungstheoretiker stehen bereit, sofort weiterzuverbreiten, was angeblich hinter diesem Zwischenfall steckt – Wallstreet, CIA, Herr Hooton mit seinem Plan oder Außerirdische. Ich denke, sie warten nur noch darauf, dass St. Petersburg den Ton vorgibt. So weit also alles wie immer.

Für Menschen, die in der realen Welt leben, dokumentiert der aktuelle militärische Zwischenfall lediglich, wie fragil die Situation unter den Mehr-oder-weniger-IS-Bekämpfern ist. Starke Mächte wie die NATO, Russland aber auch der Iran mischen da mit – ohne Koordinierung, ohne Absprache untereinander. Das ist brandgefährlich. Es erhöht die Gefahr einer ernsten militärischen Konfrontation unter Atommächten, und es verringert eine effektive IS-Bekämpfung. Der islamistische Terror ist ein gemeinsames Problem des Westens, Russlands, Chinas und vieler weiterer Länder. Wenn man mit der derzeit größten Gefahr aufräumen will, muss man miteinander reden und sich absprechen. Militärisch wäre der IS kein großes Problem, wenn echter Wille da ist, und nach dem Terroranschlag gegen ein russisches Passagierflugzeug und der Gewaltorgie von Paris ist jetzt die Zeit, diesem blutigen Spuk ein Ende zu bereiten. Miteinander.




Es wäre wünschenswert, dass Russland ein echter Partner wird

War der Absturz eines russischen Passagierflugzeugs, der alle 224 Insassen das Leben kostete, also doch ein Terroranschlag? Russische und ägyptische Offizielle bestätigen das bisher nicht, aber britische und amerikanische Geheimdienste halten es für die plausibelste Erklärung, warum ein Passagierflugzeug ohne Vorwarnung einfach so in der Luft auseinanderbricht. Warten wir also ab, was die weiteren Untersuchungen ergeben. Wenn Allahs Killertrup vom ISIS dahinter steckt, so würde das nur erneut belegen, dass Russland und der Westen ein gemeinsames Problem haben, das sie gemeinsam angehen und lösen könnten. Wenn sie Partner wären.

Russland ist ein großes und militärisch starkes Land. Jeder Nachbar, nicht nur die unmittelbaren, ist gut beraten, sich um ordentliche, ja gute Beziehungen zum Kreml zu bemühen. Und NATO und Russland gemeinsam, jeder mit seiner Militärmacht und seinen Einflusszonen im Nahen Osten, könnten dem Islamischen Staat ein schnelles Ende bereiten. Das wäre auch die Voraussetzung dafür, eine ernsthafte Lösung für das europäische und insbesondere deutsche Problem mit Flüchtlingen und illegalen Zuwanderern zu finden. Aber ich fürchte, es wird nicht passieren, denn Russland wird von einem Mann angeführt, der sich nicht an internationale Gepflogenheiten und Spielregeln zu halten gedenkt.

Nun ist gutes Personal bei der Führung von Supermächten nicht leicht zu finden. Wir sehen das in Washington ebenso wie in Moskau. Staaten sind sowieso keine Freunde, sie haben lediglich Interessen. Diese zusammenzuführen, dazu kann es gut sein, wenn die Chemie zwischen den führenden Personen stimmt. Helmut Kohl war als Kanzler ein Meister darin, persönliche Beziehungen zu flechten. Barbecue mit Bush in Camp David, am Rhein mit Gorbatschov sitzen und über die „Gechichte“ plaudern, und Maggie Thatcher in Rheinland Pfalz zum Saumagen-Essen nötigen. Und plötzlich öffnen sich Wege, von denen man nur Monate vorher nicht zu träumen gewagt hätte.

Eine gute Chemie zwischen Putin und Obama scheint es nicht zu geben. Spätestens seit dem Wort von „der Regionalmacht Russland“ ist man echt sauer im Kreml angesichts dieser offenen Demütigung. Verständlich. Nur, wenn man ein gemeinsames Problem lösen muss und sich nicht leiden kann, gibt es nur einen Weg: Vertrauen in die Verlässlichkeit der jeweils anderen Seite und das strikte Einhalten allgemein gültiger Regeln. Ob die Sowjetunion Gulags betrieben hat oder die Amis einst die Indianer nahezu ausrotteten, spielt nüchtern betrachtet keine Rolle, wenn man den IS bekämpfen will. Aber die Spielregeln müssen eingehalten werden. Sie heißen Transparenz und Rechtssicherheit. Wer im Europa 2015 mit militärischer Gewalt Grenzen verschiebt, wer Tag für Tag mit militärischen Provokationen kleinere NATO-Staaten piesackt, wer durch PR-Profis das Internet mit Unmengen selten dümmlicher Hetzpropaganda gegen den Westen fluten lässt, der kann einfach kein Partner sein. Der kann seinen Fans im Westen ein wenig Spaß bereiten, es den USA endlich mal richtig zeigen. Aber er trägt sicher nicht zu einer Lösung der aktuellen Konflikte bei. Und Respekt gewinnt er höchstens so, wie ein Wirtshausschläger. Dem gehen alle aus dem Weg und jeder grüßt freundlich aus der Ferne, aber in Wirklichkeit kann ihn kaum einer leiden.




Die Ukraine hat nie eine Chance gehabt – aber wer hätte überhaupt eine?

Seit Russlands Führer Wladimir Wladimirowitsch Putin beschlossen hat, die Ukraine unter Kontrolle zu bringen und dem gesammten Westen eine Lektion zu erteilen, ist die Angelegenheit entschieden gewesen. Umso tragischer, dass mindestens 5.000 Menschen dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten. Die Annektion der Krim und die Unterstützung der „Separatisten“ durch die Streitkräfte der Russischen Föderation mit Soldaten und militärischem Nachschub – das war nur möglich, weil sich Putin absolut sicher sein konnte, dass der Westen weitgehend untätig zusehen würde. Klar, ein paar russische Millionärsgattinnen können derzeit in Paris keine Schuhe mehr kaufen, aber eine kraftvolle Reaktion sieht anders aus. Dass die Sanktionen Russland wenigstens ein bisschen zu schaffen machen, hängt damit zusammen, dass die Energiepreise weltweit so niedrig sind. Alles zusammen schadet Russland, die Staatsrücklagen schrumpfen, der Rubel hat fast die Hälfte seines Wertes verloren. Aber all das wird auf die Situation in der Ukraine keine Auswirkungen haben. „Der Drops ist gelutscht“, nennt der Volksmund sowas, oder „die Messe ist gelesen“. Würde Putin morgen beschließen, auch die Westukraine einzukassieren – was würden wir, was würde die EU, der Westen oder die Weltgemeinschaft tun? Ich prognostiziere: Nichts! Null! Nada! Ein paar Proteste, ein paar nutzlose Konferenzen und noch ein paar Reisebeschränkungen für Oligarchen und Politiker. Aber keiner wäre bereit, einen Finger für die Ukraine zu rühren. So nüchtern, so empathiefrei muss man das leider beurteilen.
Ich bin übrigens auch dagegen, dass der Westen in irgendeiner Form militärisch in der Ukraine eingreift. Ich sage das nur, weil man heutzutage leicht zum Kriegstreiber ernannt wird, wenn man für das Recht eines souveränen Staates plädiert, sich gegen eine Aggression zu verteidigen. Aber ich möchte empfehlen, dass sich „der Westen“ und damit insbesondere auch Deutschland jetzt einmal selbstvergewissern: Was sind wir bereit, überhaupt noch zu tun? Würden wir tatsächlich für Lettland in den großen Krieg ziehen, wenn der NATO-Verteidigungsfall einträte? Ja, ja, ich weiß, wir müssten ja wegen des Beistandsvertrages. Aber würde die Bundeswehr in einem solchen Fall gegen Russland aufmarschieren? Wären die Franzosen dabei und die Italiener, die Holländer und die Norweger? Das Versagen des Westens in der Ukraine-Krise wirft die Grundsatzfrage auf: Würden wir für überhaupt etwas Krieg führen? Würden wir unser eigenes Land noch mit Waffen verteidigen wollen? Könnten wir es überhaupt – mit fünf einsatzfähigen Marine-Hubschraubern? Oder würden wir uns jedem und allem unterwerfen, um nur bloß einen Krieg zu vermeiden? Das ist eine Frage, um die sich alle Verantwortlichen herumdrücken. Wir haben uns an Dolce Vita gewöhnt, wir streiten uns um „Ampelmännchen“ und Kita-Plätze, wir wollen gute Geschäfte mit Ländern wie Russland machen. Aber um welchen Preis? Was wird die Lehre aus dem entschlossenen, ja zynischen Vorgehen Putins in der Ukraine sein? Werden wir unsere Streitkräfte modernisieren? Werden unsere gewählten Vorturner den Deutschen sagen, dass Freiheit einen Preis haben kann? Werden wir der Propaganda-Offensive aus Moskau medial etwas entgegen setzen? Werden wir wenigstens über diese Dinge sprechen? Oder werden wir unseren Sommerurlaub planen und hoffen, dass schon nichts mehr passieren wird?