Terrorist geschnappt – zwei Gedanken dazu

Der 22-jährige Syrer, der endlich in Leipzig gefasst worden ist, bevor er einen terroristischen Anschlag in Deutschland verüben konnte, ist als „Flüchtling“ eingereist. Diese Tatsache widerlegt alle die Schönredner, die uns erzählen, dass da nur junge Wissenschaftler zu uns kommen, deren Antrieb bittere Not ist. Nicht zum ersten Mal ist das Schöngerede von #wirschaffendas ad absurdum geführt worden. Dank an dieser Stelle wieder einmal die deutschen Sicherheitsbehörden, die augenscheinlich einen exzellenten Job machen.

Aber es gibt auch eine Kehrseite der Medaille. Der Terrorist wurde vergangene Nacht gefasst, weil ihn zwei andere Flüchtlinge erkannt, überwältigt, gefesselt und der deutschen Polizei übergeben haben. Das widerspricht all den Krakeelern, die sämtliche Flüchtlinge abweisen, alle Muslime aus unserem Land schmeißen wollen. Gut so, ich würde mir wünschen, dass sich noch mehr Muslime offen zu Deutschland und unserem Rechtssystem bekennen. Natürlich gibt es Flüchtlinge, die unsere Hilfe brauchen und die froh sind, dass sie bei uns Schutz und eine Zukunft finden können. Es gibt – wie bei vielen politischen Themen – keine einfachen Lösungen für die großen Probleme. Sprücheklopfen ist definitiv nicht die Lösung.




Flucht und Vertreibung damals und heute – die Unterschiede sind unübersehbar

Auch im Urlaub in Österreich lässt einen die Nachrichtenlage dieser Tage nicht los. Ich muss gestehen, man schämt sich fast ein wenig, wenn man in Kitzbühel in einer Bar sitzt, Chardonnay trinkt und Tiroler Bergkäse dazu isst, und sich dann intensiv über Flucht und Vertreibung damals und heute unterhält. So wie meine Frau und ich gestern Abend. Menschen in Not muss man helfen. Und Menschen, die nach Deutschland kommen, um uns auszunutzen, muss man rausschmeißen. So einfach könnte man einen Konsens der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland herstellen. Aber so einfach ist es eben nicht.

Ich habe mal ein bisschen nachgelesen, wie es damals war, nach dem Zweiten Weltkrieg, als Millionen Flüchtlinge ins Rest-Deutschland strömten: Schlesier, Sudetendeutsche und so weiter. Zu meinem Erstaunen las ich, dass die bei vielen Deutschen hier keineswegs willkommen waren. Man hatte selbst kaum etwas, um zu überleben, und nun kamen die da aus den verlorenen Ostgebieten oft mit nichts mehr als einem Koffer mit ein paar Habseligkeiten oder einem Bollerwagen, wie wir das in meiner lippischen Heimat nennen. Ja, das waren ja Deutsche, wird mir dann vorgehalten. Das sei etwas ganz anderes. Nicht sehr christlich, diese Einstellung, denn vor Gott sind alle Menschen gleich, habe ich mal gelernt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, am 10. Dezember 1948 von den Vereinten Nationen beschlossen, stellt gleich in Artikel 1 klar: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Gutes Dokument übrigens, zum nachlesen finden Sie es hier . Wenn man sieht, was aus den heeren Worten in der Realität geworden ist, möchte man weinen.

Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema. Wir hatten Verwandte, die während und nach dem Weltkrieg unvorstellbares Grauen erlebt haben. Soldaten, denen an der Front rechts und links Kameraden „weggeschossen“ wurden. Frauen, die mehrfach von russischen Soldaten vergewaltigt wurden und dann 1000 Kilometer zu Fuß in die Heimat gelaufen sind. Und als sie dann angekommen waren, auf durchgelaufenen Sohlen, mit schäbigen Fetzen am Leib, untergebracht in einem kleinen Zimmer mit mehreren Personen, versorgt mit kargen Rationen Brot auf Lebensmittelkarten, da haben sie ihr eigenes Leben in die Hand genommen. Sie schuffteten körperlich hart für im wahrsten Sinne des Wortes Hungerlohn, sie bekamen Kinder, sie strickten Socken und Mützen für die Enkel. Und, auch wenn es pathetisch klingt (ist ja derzeit noch erlaubt): sie bauten dieses Land wieder auf und schufen ein wohlhabendes, friedliches und letztlich weltoffenes Gemeinwesen, um das uns viele Menschen auf der Welt beneiden. Es heißt Deutschland.

Und nun also wieder Massenflucht. „Wir schaffen das“ hat die Kanzlerin vor einem Jahr gesagt und vor ein paar Tagen wieder. Ich kann es nicht mehr hören, obwohl sie im Grunde sogar recht hat. Über eine Million Flüchtlinge haben wir hier bei uns aufgenommen. Wir sind gut organisiert, Geld ist im erstaunlichen Umfang für Integrationsmaßnahmen vorhanden. Und es gibt jeden Tag diese Nachrichten, von Schlägereien in Flüchtlingsunterkünften, von gewalttätigen Übergriffen jüngst auf der Kirmes in Düsseldorf, von Belästigungen junger Frauen im Freibad durch Männer aus Nordafrika, und in Einzelfällen (Würzburg, Ansbach) auch von Terroranschlägen. Ja, ich bin sicher, dass „wir“ das schaffen. Aber ich bin wütend, dass uns niemand gefragt hat, ob wir den Preis dafür, dass „wir“ es schaffen, auch zahlen wollen. Und damit meine ich nicht Geld, sondern Sicherheit. Und wenn ich diese jungen Männer am Bahnhof mit ihren Smartphones herumlungern sehe, dann frage ich mich, warum die eigentlich nicht wie damals unsere Großmütter anfassen, um die Zukunft aufzubauen. Nicht unbedingt unsere – aber wenigstens ihre eigene.




Ich will heute nicht schreiben, was man immer so schreibt

„In Nizza hat ein mutmaßlicher Attentäter mit einem LKW zahlreiche Menschen überfahren…“

Nein, es war kein mutmaßlicher Attentätter, er war ein realer Attentäter. 84 Tote, 18 Schwerverletzte – die grauenhafte Bilanz der vergangenen Nacht. Und immer wieder diese Rituale. Die Schauspielerin Mia Farrow, die immer gern in Nizza ihre Ferien verbringt, hat dem französischen Volk ihre Solidarität mitgeteilt – „Ich sende Liebe an Frankreich“ – Wirklich nett, das wird den Angehörigen helfen, die die zerfetzten Körper ihrer Familienangehörigen und ihrer Kinder identifizieren müssen. Die gestern am französischen Nationalfeiertag die Werte ihrer Republik feiern wollten: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. US-Präsident Obama bietet über Twitter (!) dem französischen Volk Hilfe an, Bundeskanzlerin Merkel drückt ihre Anteilnahme aus und versichert, man werde den Kampf gegen den Terror gewinnen. Den Kampf? Welchen Kampf? Und gegen wen? Der Massenmörder von Nizza war nach ersten Medienberichten nicht als radikaler Islamist bekannt, auch nicht als politisch motivierter Täter. Gegen wen kämpfen wir also, Frau Merkel?

Der Mörder von Nizza stammt aus Tunesien – hat aber sicher nichts mit dem Islam zu tun. So wie die Massenmorde von Paris, von Brüssel, von London, von Madrid, von Istanbul und so weiter. Hat nichts mit dem Islam zu tun, so wie die 1.500 jungen Männer, die in der Silvesternacht massenhaft Frauen sexuell belästigten. Gestern wurde im Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags zu diesen Ereignissen bekannt, dass es inzwischen acht bekannt gewordene Vergewaltigungen vom Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofs in der Silvesternacht gab. Einige der Frauen haben es nicht einmal bei der Polizei angezeigt. Warum auch? Werden ja sowieso nur wenige Verdächtige ermittelt, in eine Zelle kommt letztlich sowieso niemand dieser Leute, die in unser Land kommen, denen wir großzügig Hilfe gewähren, denen wir die Hand zum Willkommensgruß ausstrecken, denen wir die Chance auf eine glückliche Zukunft in einem wohlhabenden und freien Land bieten. Aber sie verachten uns. Nicht alle, natürlich. Wahrscheinlich sogar eine deutliche Minderheit. Ich sage es auch an dieser Stelle nochmal: Ich kenne viele Muslime, die hier gern bei uns leben, die unsere Gesetze achten, arbeiten, Steuern zahlen und die ihre Kinder genau so lieben wie wir. Und dennoch dürfen wir heute nicht zur Tagesordnung übergehen. Ich kann diese Worthülsen unserer Politiker nicht mehr hören: „Wir sind solidarisch mit unseren französischen Freunden…bla bla bla“ Es muss sich etwas ändern – jetzt!

Die russische Luftwaffe hat heute Morgen Stellungen des IS, des sogenannten „Islamischen Staates“ bombardiert. Vielleicht ist das genau die richtige Antwort. Sind Sie jetzt schockiert, wenn ich das so schreibe? Gewalt ist doch keine Lösung, lernen wir immer. Unsere Soldaten sind „Mörder“, darf man in Deutschland gerichtsbestätigt behaupten. Wer hat denn in Deutschland, in Frankreich, überall im Westen das bessere Konzept gegen den Terrorismus? Jeder, der Augen hat zum Sehen, weiß doch seit Jahren, was los ist. Die zornigen jungen Männer, die in den Pariser Banlieus Nacht für Nacht randalierten, der rasante Zuwachs zum Salafismus in unseren Gesellschaften. Und 9/11? Schon vergessen? Ich kann das Gelaber nicht mehr hören in einer Gesellschaft, die sich nicht mehr zu wehren weiß, in der Angriffe auf Polizisten Alltag sind, übrigens in der Regel verursach von Horden, die sicher nichts mit dem Islam zu tun haben.

Nach den Anschlägen vor einigen Monaten in Paris las ich in einer Zeitungsmeldung, dass es in Brüssel – Zentrum der Europäischen Union – 800 bekannte radikale Islamisten gibt, die potentielle Gefährder sind. In Paris dürften es mehr sein und in London. Im Ruhrgebiet und Berlin gibt es die auch. Sie werden überwacht, rund um die Uhr. Warum eigentlich? Warum haben unsere europäischen Gesellschaften nicht den Mut, diese Leute auszuweisen? Wer hier zu uns kommt und unsere Hilfe bekommt und dann Verbrechen begeht muss raus. Raus! Raus! Raus! Ich höre schon die ersten Beschwichtiger, die jetzt sagen werden: Ja, die müssten raus, aaaaaber…. ihre Heimatländer nehmen sie ja nicht zurück. Und in ihren Heimatländern sind die Menschenrechte nicht gewahrt. Wissen Sie was? Es ist mir scheißegal. Schafft sie meinetwegen an den Nordpol oder zahlt Devisen an Nordkorea, damit sie diese Leute in ihren dortigen Urlaubsparadiesen wegsperren. Ich bin es leid, immer wieder diese Bilder zu sehen, Blut auf dem Straßenpflaster, zerfetzte Körper, zugedeckt mit dunkelblauen Tüchern, ein totes Kind mit einer Puppe neben sich.

„Wir sind in diesen schweren Momenten an der Seite von Frankreich“, sagt gerade Außenminister Steinmeier im Fernsehen. „Kurz vor dem Wochenende erholen sich die Temperaturen“, meldet der Nachrichtensender N 24…. ich glaube, ich muss kotzen.




Der Kampf gegen den Terrorismus als absurdes Trauerspiel

Am vergangenen Samstag explodierte vor dem Sikh-Tempel in Essen eine Bombe. Der sogenannte Sikhismus ist eine monotheistische Religion, die ihren Ursprung in Indien hat. Die Anhänger glauben an einen Gott, der weder männlich noch weiblich ist, ein sozial ausgerichtetes Familienleben, der ehrliche Verdienst des Lebensunterhaltes sowie lebenslange spirituelle Entwicklung. Die Sikhs gelten als friedfertige Leute, und auch bei längerem Nachdenken fällt mir kein Grund ein, warum irgendjemand diesen Leuten etwas Böses antun sollte. Aber zwei 16-Jährige aus der Salafistenszene im Ruhrgebiet bauten und zündeten einen Sprengsatz, ausgerechnet bei einer Hochzeitsfeier. Immerhin, trotz des in dieser Woche erneut stattgefundenen Blitzmarathons – eine völlig sinnfreie, weil teure und offenbar wirkungslose Prestigeveranstaltung einzelner Innenpolitiker – waren noch genügend Polizeibeamte vorhanden, um die beiden jungen Terroristen zu finden, zu verhaften und in Zellen zu sperren. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass drei Menschen verletzt wurden, einer davon schwer. Immerhin wagte niemand, den feigen Anschlag als kulturelle Bereicherung für unser buntes Land zu verharmlosen.

Im der gedruckten Ausgabe des Magazins „Focus“ findet sich in dieser Woche ein bemerkenswertes Doppelinterview mit dem Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), Gerhard Schindler, und Hans-Georg Maaßen, dem Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Schindler erklärte, die Anschläge von Brüssel und Paris seien von einem Netzwerk von etwa 30 Personen organisiert und ausgeführt worden. Und wörtlich weiter: „Der größte Teil der Mitglieder war den Sicherheitsbehörden bekannt. Dennoch wusste man zu wenig über ihre konkreten Tatplanungen. (…) Wir brauchen Informationen weit vor den Anschlägen, um sie zu verhindern, und nicht erst danach.“ Das erscheint logisch. Weil aber in unserem Land alles mit allem zusammenhängt, hat das Bundesverfassungsgericht am vergangenen Mittwoch andere Vorstellungen geäußert, die rechtsverbindlich und Hausaufgabe für die Politik zugleich sind. Das BKA-Gesetz, das den rechtlichen Rahmen für die Terrorismus-Bekämpfung vorgibt, wird in Teilen entscheidend entschärft. Mit fünf gegen drei Stimmen entschieden die Richter, dass den Persönlichkeitsrechten von Terrorverdächtigen und ihnen nahestehenden Personen mehr Raum eingeräumt werden muss. Also ein Beispiel. Wenn ein Terrorist von den Ermittlern ausfindig gemacht wurde, dürfen BKA und Verfassungsschutz zum Beispiel seine Wohnung mit Mikrofonen und Minikameras verwanzen. Sitzt aber seine Freundin, die nicht als Terroristin bekannt ist, in derselben Wohnung, dürfen die Ermittler nicht ohne Weiteres lauschen und filmen, weil die Dame ja schließlich auch Persönlichkeitsrechte hat und für den mutmaßlichen Massenmörder auf dem Sofa neben ihr nicht verantwortlich gemacht werden kann. Ich bin sicher, irgendwann werden die deutschen Verfassungsrichter entscheiden, dass Polizeibeamte, die mit Haftbefehl vor der Tür eines Verdächtigen stehen, nicht im Interesse der Bürger für Sicherheit sorgen, sondern eigentlich Hausfriedensbruch begehen.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin dafür, dass Deutschland ein liberaler Rechtsstaat bleibt. Ich bin dafür, dass der Staat sich weitgehend aus den Angelegenheiten seiner Bürger raushält. Ohne konkreten Anlass hat niemand meine Post zu lesen, ohne mich zu fragen. Niemand hat etwas auf der Festplatte meines Computers zu suchen, ohne dass ich die Genehmigung erteile. Und meine Telefonate gehen auch niemanden außer dem jeweiligen Gesprächspartner etwas an. Aber wie es so schön heißt: Man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen. Haben Sie noch die Bilder von Brüssel und Paris im Kopf, haben sie im Fernsehen die Toten auf den Straßen von Kabul diese Woche gesehen, den brennenden Bus in Jerusalem? Haben Sie noch die Aufnahmen von 9/11 im Kopf, von Madrid und London? Wir haben ein Problem, und das Problem ist, dass in unseren westlichen Gesellschaften eine Menge islamistischer Extremisten darüber nachdenken und intensiv daran arbeiten, möglichst viele unschuldige Menschen umzubringen. Deshalb dürfen wir unsere freiheitlichen Gesellschaften nicht abschaffen, aber wir müssen denjenigen, die in Polizei und Geheimdiensten für unseren Schutz arbeiten, die nötigen Instrumente dafür geben.

Als die rechtsradikalen Killer des sogenannten NSU zehn ausländische Mitbürger feige umgebracht haben, forderten anschließend führende Politiker, es müsse mehr Datenaustausch zwischen den Geheimdiensten und der Polizei in Deutschland geben, um solche terroristischden Gewaltverbrechen zukünftig möglichst zu verhindern. Das Bundesverfassungsgericht hat vorgestern geurteilt, der Austausch von Ermittlungsdaten zwischen den deutschen Behörden sei rechtlich problematisch. Und der Austausch auf internationaler Ebene sei überhaupt nicht wünschenswert. So, als sei der internationale Terror muslimischer Gewalttäter auf Liechtenstein begrenzt….




GASTSPIEL: Alexander Kissler über die Kriegserklärung an den Westen

Der Islamismus bleibt das Grundrauschen des beginnenden 21. Jahrhunderts, auch im Westen. Es war ein Trugschluss, das Vorrücken des „Islamischen Staates“ für einen Kollateralschaden implodierender Staatlichkeit im Nahen und im Ferneren Osten zu halten. Nein, die zornigen jungen Männer, die wir nach vollbrachter Tat in lächelnder Pose auf unscharfen Fotos sehen, machen keinen Unterschied zwischen Rückzugs- und Aufmarschgebiet. Der Westen ist ihr Satan, den sie auf satanische Weise bekämpfen. Zu Menschen des Westens erklären sie auch alle heterodoxen oder gar liberalen Muslime. Insofern könnte der Terror des „Islamischen Staates“ das Band der Menschlichkeit stärken. Doch tut er es?

Der Tunesier Seifeddine Rezgui lächelt auf den Fotos, die uns gezeigt wurden nach seinem Massaker an knapp 40 Urlaubern am Strand von Sousse Ende Juni dieses Jahres. Er arbeitete vor seiner bestialischen Tat als Animateur. Nun lächelt der Marokkaner Ayoub al Khazzani von einem Foto hinaus in die Welt, die seinen Namen bisher nicht kannte. Er trägt einen Vollbart und eine weiße Häkelmütze, wie es unter Salafisten Brauch ist. Seine Tat konnte er dank des beherzten Eingreifens dreier US-amerikanischer Staatsbürger, darunter zwei Soldaten, nicht vollenden. Sie hätte gewaltige Ausmaße annehmen können. Bewaffnet mit einer Kalaschnikow und einem Messer, wäre aus Ayoub al Khazzani um Haaresbreite der „Thalys“-Massenmörder geworden. Zwischen Amsterdam und Paris konnte er kurz vor der französischen Grenze bei über 200 Stundenkilometern überwältigt werden.
Nun mag Ayoub al Khazzani noch eine Weile versuchen, die Welt, die er vermutlich hasst, zum Narren zu halten, und sich als obdachlosen Hungrigen inszenieren, dem zufällig eine Kalaschnikow in die Hände fiel. Es grenzte an ein Wunder, sollte diese Version der Geschichte sich als wahr herausstellen. Den Behörden in Spanien, wo er Aufenthaltsrecht genießt, gilt der 25-Jährige als potentiell gefährlicher Islamist. Ein- oder zweimal soll er in Syrien gewesen sein, unweit des Herrschaftsgebiets des „Islamischen Staates“. Nach allem, was wir wissen, ist Ayoub al Khazzani ein Rückkehrer, ein Terrorist in Wartestellung, eine Zeitbombe in Menschengestalt.

Deren Zahl geht europaweit in die Hunderte. Jenseits des Westens wurde ihr Hass auf den Westen verdichtet, so dass da keine Lebensluft und keine Zweifel mehr Platz haben. Ihre Existenz zeigt, dass dem Westen der Krieg erklärt worden ist im Namen eines extremistischen Radikalislam. Der Ausgang dieses Krieges wird von der Antwort des Westens abhängen. Erklärt er sich weiterhin für weltanschaulich nicht zuständig und verbucht die Anschläge maximal unspezifisch unter Terrorismus oder Bandenkriminalität, kann er diesen Krieg nicht gewinnen. Die Attentäter wie auch die große Gruppe ihrer Sympathisanten müssen zweierlei erfahren: dass der Westen nicht mit sich spaßen lässt und dass Intoleranz nicht mit Toleranz rechnen darf. Wo immer islamisch grundierter Fanatismus‘ sein Haupt erhebt, ist es keineswegs Ausdruck von Kulturimperialismus oder Spezialmoral, ihn entschlossen, mutig und umstandslos in die Schranken zu weisen. Wer den freien Westen angreift, praktisch oder theoretisch, weil ihm Freiheit verhasst ist, muss von der westlichen Zivilgesellschaft immer und immer wieder hören: Die Freiheit lassen wir uns von niemandem nehmen. Sind wir dazu bereit?

Vom Autor ist soeben erschienen: „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss.“ (Gütersloher Verlagshaus, 184 Seiten, 17,99 Euro).

http://www.blog.gtvh.de/alexander-kissler/




In Deutschland wird die reale Gefahr weiter unterschätzt

Wieder einmal hat Europa Glück gehabt. Der islamistische Terrorist Ayoub El Khazzani scheiterte mit seinem Versuch, im Hochgeschwindigkeitszug Thalys ein Blutbad anzurichten. Es ist der Tapferkeit und Reaktionsschnelligkeit dreier Amerikaner und eines Briten zu verdanken, dass der Anschlag verhältnismäßig glimpflich ausging. Zwei der Amerikaner waren ausgebildete Soldaten auf Urlaub. Sie reagierten ohne zu zögern, so wie sie es wahrscheinlich gelernt haben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wirft heute die interessante Frage auf, ob die Tatsache, dass Amis ohne zu zögern eingriffen, während sich das französische Zugpersonal in Sicherheit brachte und einschloss, darauf hindeutet, dass wir Europäer nicht wirklich bereit zur Gegenwehr gegen den Terror sind.

Ich glaube, dass man das so nicht sagen kann. Wären kampferfahrene Franzosen und auch Deutsche im Zug gewesen, hätten sie wahrscheinlich ähnlich reagiert. Hoffe ich jedenfalls. Aber die FAZ weist mit ihrer Frage auf den Kern des Problems hin. Wie bei vielen gescheiterten Anschlägen in Europa in den vergangenen Jahren, sagen die Sicherheitsbehörden nun, dass ihnen der Attentäter bereits bekannt war. Man hat ihn gespeichert, man kennt seine Geschichte, man weiß, dass er in Syrien war – aber man konnte ihn nicht hindern, einen Massenmord zu planen und zu versuchen. Die französischen Sicherheitsbehörden sind – wie vermutlich auch die deutschen – längst überfordert damit, alle möglichen Terrorverdächtigen in ihren Ländern im Griff zu behalten. Inzwischen sind auch in Deutschland Hunderte Islamisten vom IS-Kampf zurückgekehrt, fanatisiert, an der Waffe ausgebildet und srupellos. Wer soll die alle im Blick behalten, und das so intensiv, dass man im richtigen Moment eingreifen kann?

Es gibt ja auch noch andere Probleme, denken Sie an die „No-Go-Areas“ im Ruhrgebiet und wohl auch in Berlin. Deutschland muss den Andrang von Flüchtlingen bewältigen, zahlreiche Muslime aus Syrien und dem Irak kommen ins Land – die überwältigende Mehrheit gewiss aus Furcht vor der IS-Schreckensherrschaft. Aber wer soll überprüfen, ob es zu 100 Prozent friedfertige Leute sind? Warum machen wir uns Gedanken darüber, Islamisten an der Ausreise ins Bürgerkriegsgebiet zu hindern, statt zu regeln, dass die, die ausreisen und sich dem IS anschließen, nicht wieder nach Deutschland zurückkehren dürfen? Und hat dieses Land nicht in den vergangenen Jahrzehnten den Respekt vor den Leuten verloren, die unsere Sicherheit garantieren sollen. Welches Ansehen genießen Soldaten der Bundeswehr und die Mitarbeiter unserer Geheimdienste in der Bevölkerung noch?

Nicht in jedem Zug können – zufällig oder gewollt – Soldaten mitfahren. Niemand kann absoluten Schutz garantieren. Aber ja, meine Antwort auf die FAZ ist: Ich bin überzeugt, dass nach 9/11 und Boston die USA und ihre Bewohner die reale Gefahr des islamistischen Terrors ernster nehmen als die meisten Einwohner europäischer Länder dies tun. In Frankreich beginnt man offenbar umzudenken. In Deutschland nach meinem Eindruck nicht….




GASTSPIEL: Julie Lenarz über Erdogans Doppelspiel im Nahen Osten

„Uns wurde gesagt: An der Grenze spazieren türkische Soldaten, und die würden auch, wenn die euch sehen, abfeuern. Aber ihr braucht keine Angst zu haben, weil die schießen nur nach oben. Die wissen, wer ihr seid und die sind dabei.“ Diese vielsagende Aussage von Ebrahim B., ein vor kurzem aus Syrien zurückgekehrter Deutscher, ehemaliger Kämpfer für den Islamischen Staat, bestätigt den Verdacht, den viele Entscheidungsträger und Geheimdienstler im Westen schon lange hegen: Die türkische Regierung verschließt die Augen vor ausländischen Extremisten, die über die Türkei nach Syrien reisen. Sie hoffen, dass diese die kurdische Opposition schwächen und das Assad-Regime zu Fall bringen.

Die Türkei war zwar mit dabei, als die USA auf einem Sondergipfel im vergangenen Jahr eine Anti-IS Koalition bildete, weigerte sich jedoch – im Gegensatz zu Repräsentanten aus Saudi Arabien, Ägypten, Jordanien, dem Libanon, Kuwait, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten – sich offiziell an der militärischen Kampagne zu beteiligen. Mit der zweitstärksten Armee in der Region hätte die Türkei wesentlich dazu beitragen können, dem Islamischen Staat ein endgültiges Ende zu bereiten. Jedoch änderte sich Ankaras Kalkül erst, als der Islamische Staat im Distrikt von Suruç ein verheerendes Selbstmordattentat verübte. Erst dann erlaubte die Erdogan-Regierung dem Verbündeten USA erstmals, den türkischen Stützpunkt Incirlik für Dronenangriffe in Syrien zu nutzen.

Erdogans Regierung hat wenig dazu beigetragen, den Zustrom von ausländischen Rekruten zu stoppen. Die Türkei wurde zum „Highway of Jihad“ für all jene, die sich dem Islamischen Staat oder anderen extremistischen Organisationen in Syrien anschließen wollen. Es mangelt nicht an Beweisen, um die anhaltende Unterstützung von sunnitischen Extremisten wie Ahrar ash-Sham und der Jaish al-Fatah Allianz durch die Türkei zu belegen – eine Politik die letztendlich nur ein Ziel hat: die Kurden zu schwächen und das Assad Regime zu stürzen. Die vorwiegend salafistische Rebellengruppe Ahrar ash-Sham wurde 2011 in Nordsyrien gegründet und pflegt enge Verbindungen zu Al Kaida und deren Verbündeten Jabhat al-Nusra. Während westliche Regierungen jegliche Kollaboration ablehnen, unterstützt die Türkei die Ahrar ash-Sham mit Geld und Waffen. Ebenso die erst kürzlich gegründete Jaish al-Fatah, der sowohl Ahrar ash-Sham als auch Jabhat al-Nusra angehören.

Allerdings unterhält die Türkei keinesfalls Verbindungen zu allen Rebellengruppen, sondern nur zu jenen, die Erdogans Vision der Post-Assad-Ära teilen. Der Freien Syrischen Armee, einer größtenteils säkularen nationalistische Gruppe, wurde die kalte Schulter gezeigt zu Gunsten von extremistischen Rebellen, einschließlich Islamischer Staat. Ein USB-Stick, den Behörden nach dem Tod von Abu Sayyaf, Direktor des Islamischen Staats für Öl und Gas in Syrien, sicherstellten, beinhaltet angeblich „klare“ und „unbestreitbare“ Beweise für finanzielle Unterstützung, Waffenschmuggel und illegale Öl- und Antik-Geschäfte zwischen der Türkei und der Terrororganisation. Ein hochrangiger westlicher Diplomat spekulierte sogar, dass diese Erkenntnisse „tiefgreifende politische Implikationen für die Beziehungen zwischen uns und Ankara“ haben könnten.
Die Türkei bekam die Konsequenzen ihrer „Höre-nichts-sehe-nichts“-Politik zu spüren, als der Islamische Staat im Distrikt von Suruç das Selbstmordattentat verübte, das 32 Menschen das Leben kostete und viele mehr verletzte. Innerhalb weniger Tage wurden Anti-Terror-Razzien im ganzen Land angeordnet und Luftangriffe gegen den Islamischen Staat in Syrien und im Irak geflogen. Zu behaupten, die Türkei hätte der Terrororganisation nun endgültig dem Kampf erklärt, wäre aber zu voreilig. Obwohl Erdogan die Vergeltungsschläge als nationale Kampagne gegen Terrorismus jeder Art propagiert, spricht sein Handeln eine andere Sprache. Von den 984 Verdächtigen, die bis zum 29 Juli festgenommen wurden, gehören 847 der PKK und nur 137 dem Islamischen Staat an. Zudem wurden viele Sympathisanten der Islamisten schon nach einigen Stunden wieder entlassen; angeblich aus Mangel an Beweisen. Auch die Luftangriffe der türkischen Armee trafen die PKK deutlich intensiver, als den Islamischen Staat. Während die Offensive gegen die Islamisten nur langsam und sporadisch vorangeht, verlor die PKK schon über 260 Kämpfer in der ersten Woche der Angriffe.

Die Politik der Türkei kann nur im Zusammenhang mit der Wahl im Juni verstanden werden. Erdogans Traum von einer neuen Verfassung war durch die Wähler ein abruptes Ende bereitet worden. Für ihn erfüllen demokratische Wahlen nur einen Zweck: seine Macht auszubauen. Demokratie ist nur so lange erwünscht, wie sie das erhoffte Ergebnis bringt. Zwar ging Erdogans AKP Partei wieder als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor, erlitt aber erhebliche Verluste und muss nun zum ersten Mal seit 13 Jahren einen Koalitionspartner zur Regierungsbildung finden. Mit 12 Prozent der Stimmen war es ausgerechnet die pro-Kurdische HDP Partei, die Erdogans AKP die Mehrheit kostete. Die Unterstützung für seine Partei hatte in kurdischen Kreisen über viele Monate stetig nachgelassen und nahm massiv ab, nachdem der IS mit der Belagerung der kurdischen Stadt Kobane an der türkisch-syrischen Grenze begonnen hatte. Die Türkei sah gelassen zu, wie die Islamisten kurdische Zivilisten abschlachteten und versklavten und behinderte obendrein lange Zeit die dringend erforderliche militärische Verstärkung. Der gegenseitige Vertrauensverlust und der bittere Nachgeschmack der Wahl haben den ohnehin fragilen Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der PKK endgültig zerschlagen.

Erdogans Antwort auf die Krise lautet: Krieg. In Zeiten von Chaos und Terror stellen sich die Menschen bekanntlich hinter ihre Regierung. Selahattin Demirtaş, dem Vorsitzenden der HDP, hat man nun die Immunität aufgehoben und angebliche Verbindungen zwischen seiner Partei und der PKK werden nun von einem Untersuchungsausschuss geprüft. Im Falle einer erzwungenen Auflösung der HDP könnte Erdogan das letzte Hindernis auf dem Weg zu einer allmächtigen Präsidentschaft ein für alle Mal aus dem Weg räumen, bei Neuwahlen die schon im Oktober oder November diesen Jahres stattfinden sollen.

Die IS-Politik der Türkei bleibt weiterhin dubios, undurchsichtig und komplex und dient vor allem der Schwächung der kurdischen Opposition in der Türkei und an der türkisch-syrischen Grenze, mit potentiell weitreichenden Folgen für die türkische Demokratie. Die USA und ihre Verbündete wären gut beraten, ihre Position zu überdenken, bevor sie sich auf die Seite eines Landes stellen, welches einen kurdischen Staat scheinbar mehr fürchtet als den Islamischen Staat.

Julie Lenarz arbeitet als politische Beraterin und leitet das Human Security Centre (HSC) in London. Sie ist spezialisiert auf den Nahen Osten, Terrorismus, Islamismus und religiöse Verfolgung. Twitter:@MsIntervention