GASTSPIEL BJÖRN SCHREIBER: Ostern – seit 2010 nicht mehr wie es mal war

Plötzlich ist es sonnig, geschätzt 30 Grad – ich bin zurück in 2010. Ich schaue an mir hinab: Wüstentarnuniform, meine Hände halten Trommelstöcke. Mit einer absurden Konstruktion aus der Instandsetzung in Mazar-e Sharif haben wir am Karfreitag eine Tragekonstruktion für eine Tom unseres Bandschlagzeugs gebaut. Genau diese Tom hängt jetzt um meinem Hals, die Trommel auf Hüfthöhe. Auf der Tom haben wir mit Filz Stellen beklebt, um einen dumpfen Ton erzeugen zu können.

Von der Rede des Ministers Niebel sowie General Leidenberger bekomme ich nichts mit. Stattdessen schweift mein Blick über die Formation der angetretenen Soldaten, und in meinem Kopf kreist alles um den Gedanken, dass ich gleich bloß keinen Fehler machen darf. Das darf nicht passieren!
 Plötzlich Bewegung. Die Formation löst sich auf. „Habe ich was verpasst?“ Nein, die Kameraden begeben sich zur Aufstellung des Spaliers. Die drei Transportpanzer FUCHS begeben sich in Formation, eingerahmt von Kameraden aus Seedorf, die die Ehrenwache stellen, ein Bild des gefallenen Kameraden sowie die Orden präsentierend. Dahinter werde ich platziert. Drei Meter hinter dem letzten Kameraden stehe nun also ich: Oberleutnant zur See Schreiber, „bewaffnet“ mit einer notdürftig gebauten Trauertrommel – aus einem Bandschlagzeug!

Die Absurdität dieses Bildes führt zu einem paradoxen Gefühl, lachen zu wollen. Aber das geht nicht. Wieder Bewegung! Die Füchse rollen an. „Die Fallschirmjäger werden Dich verfluchen, wenn Du es jetzt versaust!“ Jeder Muskel spannt sich an und ich kann jede Muskelfaser spüren, die mein linkes Bein zum ersten Schritt bringen sollen. BUNM – der erste Trommelschlag trifft das Filz. Rechter Fuß – Linker Fuß – BUMM! Die ersten Schritte sind gemacht. Mein Blick richtet sich vorwärts. BUMM! Ein Sarg ragt aus dem TPz, bedeckt mit unserer Bundesdienstflagge. BUMM! Wir passieren die ersten Kameraden im Spalier. BUMM! Blick in die Gesichter – allen steht die Trauer in den Augen. BUMM! Unsere Blicke treffen sich, und auch mir steigen Tränen in die Augen. BUMM! Zeit für Gedanken habe ich nicht. BUMM! Blick auf die Trommel: Konzentration, nicht daneben schlagen! BUMM! Warum die Panzer plötzlich sehen bleiben erklärt sich nicht auf den ersten Blick. BUMM! Verdammt, wir stehen doch. Nicht mehr trommeln!

Das Zeitgefühl habe ich wohl verloren, das Gefühl für die Strecke auch, obwohl wir sie gestern noch abgelaufen sind. Wir sind am Heli-Pad, wo die CH53 stehen, mit denen gleich die Kameraden sowie sämtliche VIPs und auch ich nach Termez fliegen werden. 
Die TPz stellen sich nebeneinander auf. Ich fühle mich etwas verloren und werde platziert. Mit wird jetzt erst die ganze Medien-Entourage bewusst. Dann überkommt mich die Angst: Am Samstag Morgen hieß es noch, dass nur durch das Spalier getrommelt werden soll. Nach unserer Ankunft in Kunduz aber haben der Stabsfeldwebel (er hat den Guten Kameraden auf seiner Trompete gespielt) und ich uns weitere Infos eingeholt: Es wird auch erwartet, dass ich gleich den Trommelwirbel schlage, wenn die Särge aus den TPz in die CH53 getragen werden! Also hat der Staber am Abend versucht, mir noch das Wirbeln beizubringen. Versagensangst steigt in mir hoch! Ich will doch nichts falsch machen – nicht die würdige Zeremonie versauen! Ich fühle mich hilflos. Dann geht es los.

Die Sargträger gehen zu den Särgen und greifen zu. Blick auf die Trommel – jetzt bloß nicht die Filzstreifen treffen! Gestern Abend haben wir noch einen Streifen wieder abgezogen, weil der Wirbel anders klingen muss. Ich hebe die Trommelstöcke und fange an: RRRRRRRRRRRRRRR klingt es. „Soll so ein Wirbel klingen?“ Ich schaue in die Reihen der Fallschrimjäger, die wohl hinter mir hergegangen sind und alle einen schwarzen Trauerflor tragen. RRRRRRRRRRRRRRR! Sie halten sich in den Armen, viele weinen, allen sieht man den Schmerz an. RRRRRRRRRRRRRRR! Was muss in ihren Köpfen abgehen? Ich sehe Herrn General Leidenberger. RRRRRRRRRRRRRRR! Auch ihm sieht man an, dass es ihm nahe geht: Gehörten die Jungs doch zu seiner Brigade. RRRRRRRRRRRRRRR! Keiner schaut mich böse an. Erleichterung. RRRRRRRRRRRRRRR! Der erste Sarg verschwindet im Helikopter. RRRRRRRRRRRRRRR! Als der letzte Sarg verschwindet, bekommt die Trommel einen letzten etwas härteren Schlag – BUMM! Ruhe!

Die Fallschirmjäger – ihnen allen sieht man an, dass sie starke Jungs sind – lassen ihren Gefühlen freien Lauf. Ich möchte zu ihnen gehen, sie einfach trösten. Aber ich gehöre nicht zu ihrer Kompanie und weiß nicht, wie sie reagieren würden. Jeder geht mit seiner Trauer anders um. Und diese Einheit ist seit Freitag noch enger zusammengewachsen als sie es vorher schon war. Also stehe ich hier – tatenlos und hilflos. Langsam kommt Bewegung in die Masse. Herr Minister Niebel und seine Delegation werden zu einem Heli begleitet und auch die Gruppe um General Leidenberger, zu der ich seit gestern gehöre, bewegt sich langsam. Ein junger Oberleutnant steht relativ vereinzelt aber mit deutlicher Nähe zur Fallschirmjägerkompanie. Vielleicht ein Zugführer, der stellvertretende Kompaniechef oder Kompanieeinsatzoffizier.

Ich nehme mir ein Herz: Unter Offizieren ist – eigentlich total absurd in so einer Situation – die Nähe eher da. Ich gehe zu ihm hin und finde kaum Worte. „Mein herzliches Beileid, Kamerad!“ Es klingt trocken, formell und fast schon lächerlich. Toll, selbst das bekomme ich nicht hin. Der Oberleutnant aber nimmt mich in den Arm und ich sehe Tränen in seinen Augen: „Danke!“ Ein Wort – und doch soviel, was da zwischenmenschlich zwischen uns geschieht. Dann ist es Zeit: Ab in den Heli, Platz nehmen, Helm auf. Die Trommel zwischen meinen Füßen hebt der Heli ab.

Wie unwirklich die Bilder sind, wenn ich so aus der offenen Heckklappe am Heck-Gunner vorbeischaue. Schönes Land Afghanistan – Du hast am Freitag drei jungen Männern das Leben genommen! Weiteren schwere Verwundungen. Du hast Kindern den Vater, Frauen den Ehemann oder Lebensgefährten, Eltern ihr Kind genommen!
 Landung – Termez. Wir müssen aussteigen. Die Särge werden aus den Helikoptern in die Regierungsmaschine von Minister Niebel gebracht. Ich erfahre, dass ich dabei nicht trommeln muss. Es ist als ob das ganze Marmalgebirge von mir abfällt. Und dann geschieht es: Mir kommen die Tränen. Ich kann gar nicht anders. Die ganze Anspannung ist weg und ich heule. Der Stabsfeldwebel steht neben mir und nimmt mich einfach in den Arm. Danke! Ich kann nicht reden, aber ich fühle mich geborgen. Ich bin 28 und heule, weil drei meiner Kameraden seit Freitag nicht mehr unter uns sind!

Zwei Arme um mir. Eine Umarmung und ich sitze am Kaffeetisch. Ostersonntag 2018 – meine Frau holt mich aus meinen Gedanken und Erinnerungen. Danke, ich liebe Dich!

Ostern wird nie mehr das sein, was es vor 2010 war.

Karfreitag 2010: Bei einem stundenlang andauernden Gefecht in der Ortschaft Isa Khel, (Distrikt Chahar Darreh, Provinz Kunduz) fallen Hauptfeldwebel Nils Bruns, Stabsgefreiter Robert Hartert und Hauptgefreiter Martin Kadir Augustyniak. Acht weitere Kameraden werden zum Teil schwer verwundet.




Über das unwürdige Possenspiel rund um den Tod Helmut Kohls

«Ich finde die bisherige Entwicklung unwürdig, für meinen Vater, für Deutschland und für Europa.» Dieser Satz stammt vom Kohl-Sohn Walter, der in den Tagen nach dem Tod seines Übervaters keine Gelegenheit ausließ, öffentlich zu zeigen, was er von dem Gezerre um das Begräbnis im allgemeinen und von der Witwe Maike Kohl-Richter im besonderen hält. Als Walter Kohl Zutritt zu seinem Elternhaus begehrte, wurde er von Polizeibeamten abgewiesen, die ein Hausverbot gegen ihn durchsetzten.

Mit der Entscheidung für ein Begräbnis Helmut Kohls in Speyer wolle man sein „politisches Lebenswerk“ von seiner Mutter Hannelore trennen, behauptet der zornige Sohn und forderte öffentlich, seinen Vater an der Seite seiner Mutter im Familiengrab der Kohls beizusetzen. Und weil das nicht passiert, wird Walter Kohl an der Beisetzung seines Vaters überhaupt nicht teilnehmen. Ein unfassbarer Vorgang.

Und dann der „Staatsakt“, oder wie es jetzt genannt wird „Trauerakt“ am 1. Juli im EU-Parlament in Straßburg. Ist das angemessen? Klar, Helmut Kohl war einer der großen Europäer in der jüngeren Geschichte. Maßgeblich stellte er die Weichen, nicht zuletzt für die Einführung des Euro. Aber Staatsakt? Ein europäischer Staatsakt? Europa ist kein Staat und wird hoffentlich auch nie einer werden. Warum ehrt man einen verdienten, ich sage großen, Bundeskanzler – immerhin der Kanzler der Einheit – nicht in seinem Land?

Man muss nicht mit Kohls Politik einverstanden gewesen sein, aber man kann diesem Mann nicht absprechen, dass er ein deutscher Patriot war, der seinem Land im wahrsten Sinne des Wortes lange gedient hat. Und der dieses unwürdige Possenspiel um sein Begräbnis und sein Andenken wahrlich nicht verdient hat.