Die Ukraine hat gewonnen – wenn auch erstmal nur beim Singen

Was viele Menschen nicht wissen: Auch Journalisten haben Gefühle. Am ersten Weihnachtstag 1979 marschierte die Armee der gern von ihr selbst und nur von ihr selbst „friedliebend“ genannten Sowjetunion in Afghanistan ein. In den folgenden Monaten gab es ein Eishockeyspiel zwischen der favorisierten Sowjetunion und der USA. Ich weiß nicht mehr, was der Anlass dieses sportlichen Kräftemessen war. Aber ich kann mich noch an die Fernhsehbilder erinnern, als hätte ich sie gestern Abend gesehen und nicht vor 36 Jahren. Eishockey ist ein Sport, bei dem es ordentlich zur Sache geht. Körperkontakt ist erwünscht und die Schutzanzüge sind aus gutem Grund dick gepolstert. Das Spiel war mitreißend, von deutlicher Aggressivität geprägt, und überraschenderweise gewannen die noch vergleichsweise unerfahrenen Amis das Spiel. Das Bemerkenswerte dabei war, mit welcher Leidenschaft beide Mannschaften zur Sache gingen, Spieler wurden über die Bande geschmissen, man hatte nicht das Gefühl, dass es hier um einen sportlichen Wettbewerb ging. Es ging um Politik.

So wie gestern Abend beim europäischen Gesangswettbewerb ESC. Gewinnerin wurde die Sängerin Jamala, die eigentlich Susana Dschamaladinowa heißt. Sie kam 1983 in Kirgisien zur Welt, und ihr Siegerlied „1944“ handelt von der Vertreibung ihrer Urgroßmutter, die zur tatarischen Bevölkerungsgruppe gehörte, nach Zentralasien. Auf Befehl Stalins. Vertreibung von der Krim. Nichts gegen das Lied an sich, aber man muss ziemlich naiv sein, zu glauben, das Ergebnis der Entscheidung des europäischen Publikums gestern Abend sei das eines Komponistenwettbewerbs gewesen. Zu unübersehbar sind die Bezüge zur aktuellen Situation der geschundenen Ukraine, zur von Russland wieder einverleibten Krim, von rund 7.000 toten Ukrainern, getötet von russischen Söldnern mit russischen Waffen in ihrem eigenen Land. Ich habe keinen Zweifel, dass sich besonders viele Osteuropäer gestern vor den Fernsehgeräten ähnlich gefühlt haben wie ich. Die Ukraine hat gewonnen. Mit Gesang, nicht mit Gewehren und Panzern. Mit Gewalt könnten sie es nicht schaffen gegen den osteuropäischen Hegemon, der das Völkerrecht nach Belieben mit Füßen tritt. Aber mit etwas Belanglosem, wie einem internationalen Schlagerwettbewerb, bei dem das immer gern zitierte „Volk“ gezeigt hat, wie es denkt und fühlt. War ein schöner Abend gestern. Journalisten haben eben auch Gefühle.




Die Volksabstimmung als ein pervertiertes System

Holland hat gesprochen: 64 Prozent von 32 Prozent sagten „Nee“ zu einem Assoziierungsbkommen zwischen der EU und der Ukraine. Interessant sind dabei drei Feststellungen.

Erstens: Nur 32 Prozent der Wahlbürger in unserem sympathischen Nachbarland haben an der Volksabstimmung überhaupt teilgenommen. 68 Prozent war das Thema offenbar völlig schnuppe. Selbst die Organisatoren räumten ein, dass es ihnen bei der Abstimmung nicht um die arme Ukraine geht, sondern um eine Klatsche für die Europäische Union angesamt.

Zweitens: Drei EU-feindliche Organisationen haben das Volksbegehren „gewonnen“. Wenn man zu demokratischen Mitteln greift, darf man EU-feindlich sein. Immer mehr Menschen sind offenbar EU-feindlich in der EU. Immer mehr EU-feindliche Parteien feiern Wahlerfolge Sollte man sich nicht mal mit der Frage beschäftigen, warum das so ist? Läuft vielleicht etwas falsch in der EU? Oder gibt es grundsätzliche Strukturfehler? Ich meine ja.

Drittens: Überall in Europa gibt es Probleme. Da sind Länder, die hoffnungslos überschuldet sind. Da gibt es Länder (Ost), die gern von den Vorteilen des freien Marktes und von satten Subventionen aus Brüssel profitieren, aber wenn Hunderttausende Flüchtlinge vor der Tür stehen, sind sie alle weg. Und da gibt es andere Länder (West), die große Reden von Humanität und Moral halten, ohne ihre eigenen Bevölkerungen in dieser Politik „mitzunehmen“. Da gibt es England, in dem viele von „Brexit“ reden, ohne mal den Taschenrechner zu benutzen und nachzurechnen, wie dramatisch die britische Volkswirtschaft unter einem Austritt aus der Europäischen Union leiden würde. Und es gibt Heerscharen muslimischer Extremisten und Terroristen, die inzwischen innerhalb der EU leben, agitieren und zunehmend Gewalttaten vorbereiten und begehen.

Über viele Jahre war die EU eine schöne Idee. Freizügigkeit, Völkerverständigung, offene Grenzen, gemeinsame Wertvorstellungen, wachsende soziale Standards, freier Handel. Doch der Himmel über der EU wird immer dunkler, obwohl viele Länder – besonders Deutschland – von diesser großartigen Idee nach wie vor profitieren.

Was sind die Lehren der Abstimmung in den Niederlanden? Die Machthaber in Moskau klatschen sich auf die Schenkel, weil ihre linken und rechten „Querfront“-Hilfstruppen ganze Arbeit geleistet haben. Für den mühsamen Weg der Ukraine nach Westen und in die Selbstbestimmung ist diese Volksabstimmung ein ganz schlechtes Zeichen, auch wenn das Referendum nicht bindend für die holländische Regierung ist.

Vor allem aber zeigt die Abstimmung in den Niederlanden die Fragwürdigkeit solcher Abstimmungen, die ja von Vielen als Ausweis eines großartigen Demokratieverständnisses angesehen wird. Noch mal zur Erinnerung: 27 EU-Länder haben dem Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zugestimmt. Das holländische Parlament und die Regierung auch. Dann mobilisieren EU-Gegner eine Volksabstimmung, von der sie selbst sagen, dass sie das Thema nur vorgeschoben haben und eigentlich einen ganz anderen Zweck verfolgen. Dann stimmen nur ganze 18 Prozent der Wahlberechtigten im einwohnermäßig kleinen Nachbarstaat mit Nein und damit wird wohlmöglich die ganze EU in der Ukraine-Frage gelähmt? Ist das Demokratie, wie wir sie wollen? Das Assoziierungsabkommen zwischen EU und Ukraine, um das es bei der „Volksabstimmung“ ging, umfasst 300 Seiten. Wie viele Menschen in den Niederlanden, die dazu ihre Meinung sagen sollten, haben den Vertrag gelesen? Direkte Demokratie geht anders.

Ich bin dafür, dass es Wege direkter Demokratie auch in Deutschland gibt. Aber Volksabstimmungen – das zeigt das aktuelle Beispiel – sind oft Mittel zum Zweck, um Denkzettel zu verteilen, nicht um Themen sachgerecht zu entscheiden. Auch das darf ein Volk natürlich. Aber ist es der Sinn der Sache? Bei der Debatte um die Staatsschuldenkrise und die Zukunft des Euro vor einigen Jahren forderten Kommentatoren und Politiker eine Volksabstimmung über die Zukunft des Euro. Welcher Bundesbürger von den über 50 Millionen Wahlberechtigten hätte in einer solchen Abstimmung über Fragen von Geldwert und internationalem Finanzsystem eine sachgerechte Entscheidung treffen können? Wie viele Leute, die keine Ahnung von Währung haben, hätten einfach nur abgestimmt, weil sie zum Beispiel Frau Merkel als Bundeskanzlerin los werden wollten? Um dann anschließend mit dem stabilen Euro ihren Sommerurlaub zu buchen…




Die Ukraine hat nie eine Chance gehabt – aber wer hätte überhaupt eine?

Seit Russlands Führer Wladimir Wladimirowitsch Putin beschlossen hat, die Ukraine unter Kontrolle zu bringen und dem gesammten Westen eine Lektion zu erteilen, ist die Angelegenheit entschieden gewesen. Umso tragischer, dass mindestens 5.000 Menschen dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten. Die Annektion der Krim und die Unterstützung der „Separatisten“ durch die Streitkräfte der Russischen Föderation mit Soldaten und militärischem Nachschub – das war nur möglich, weil sich Putin absolut sicher sein konnte, dass der Westen weitgehend untätig zusehen würde. Klar, ein paar russische Millionärsgattinnen können derzeit in Paris keine Schuhe mehr kaufen, aber eine kraftvolle Reaktion sieht anders aus. Dass die Sanktionen Russland wenigstens ein bisschen zu schaffen machen, hängt damit zusammen, dass die Energiepreise weltweit so niedrig sind. Alles zusammen schadet Russland, die Staatsrücklagen schrumpfen, der Rubel hat fast die Hälfte seines Wertes verloren. Aber all das wird auf die Situation in der Ukraine keine Auswirkungen haben. „Der Drops ist gelutscht“, nennt der Volksmund sowas, oder „die Messe ist gelesen“. Würde Putin morgen beschließen, auch die Westukraine einzukassieren – was würden wir, was würde die EU, der Westen oder die Weltgemeinschaft tun? Ich prognostiziere: Nichts! Null! Nada! Ein paar Proteste, ein paar nutzlose Konferenzen und noch ein paar Reisebeschränkungen für Oligarchen und Politiker. Aber keiner wäre bereit, einen Finger für die Ukraine zu rühren. So nüchtern, so empathiefrei muss man das leider beurteilen.
Ich bin übrigens auch dagegen, dass der Westen in irgendeiner Form militärisch in der Ukraine eingreift. Ich sage das nur, weil man heutzutage leicht zum Kriegstreiber ernannt wird, wenn man für das Recht eines souveränen Staates plädiert, sich gegen eine Aggression zu verteidigen. Aber ich möchte empfehlen, dass sich „der Westen“ und damit insbesondere auch Deutschland jetzt einmal selbstvergewissern: Was sind wir bereit, überhaupt noch zu tun? Würden wir tatsächlich für Lettland in den großen Krieg ziehen, wenn der NATO-Verteidigungsfall einträte? Ja, ja, ich weiß, wir müssten ja wegen des Beistandsvertrages. Aber würde die Bundeswehr in einem solchen Fall gegen Russland aufmarschieren? Wären die Franzosen dabei und die Italiener, die Holländer und die Norweger? Das Versagen des Westens in der Ukraine-Krise wirft die Grundsatzfrage auf: Würden wir für überhaupt etwas Krieg führen? Würden wir unser eigenes Land noch mit Waffen verteidigen wollen? Könnten wir es überhaupt – mit fünf einsatzfähigen Marine-Hubschraubern? Oder würden wir uns jedem und allem unterwerfen, um nur bloß einen Krieg zu vermeiden? Das ist eine Frage, um die sich alle Verantwortlichen herumdrücken. Wir haben uns an Dolce Vita gewöhnt, wir streiten uns um „Ampelmännchen“ und Kita-Plätze, wir wollen gute Geschäfte mit Ländern wie Russland machen. Aber um welchen Preis? Was wird die Lehre aus dem entschlossenen, ja zynischen Vorgehen Putins in der Ukraine sein? Werden wir unsere Streitkräfte modernisieren? Werden unsere gewählten Vorturner den Deutschen sagen, dass Freiheit einen Preis haben kann? Werden wir der Propaganda-Offensive aus Moskau medial etwas entgegen setzen? Werden wir wenigstens über diese Dinge sprechen? Oder werden wir unseren Sommerurlaub planen und hoffen, dass schon nichts mehr passieren wird?