Von der Gratwanderung zwischen Recht und Irrsinn

Mein Facebook-Freund Markus schrieb gestern Abend an mich gerichtet: „das ist der mit Abstand schlechteste, weil vermutlich emotionsgeladen geschriebene Artikel, den ich jemals von Dir gelesen habe.“ Was er meint, ist mein Tagebuch-Eintrag mit dem Tenor „Macht den Wilden Westen endlich dicht!“ Außer Markus haben mir auch andere reichlich eingeschenkt. „Das Recht auf Waffenbesitz ist ein elementares Menschenrecht“, schreibt Thorsten. „Es wäre grauenhaft, würden die Amerikaner den gleichen Fehler begehen wie die Deutschen, nämlich tragische Einzelfälle zur Regel zu stilisieren und daraus hysterische Horrorszenarien zu basteln“, schreibt Cornel. „Gegen Kriminelle mit Waffen gibt es kein besseres Mittel als Gesetzestreue zu entwaffnen!“, fügt Torsten (ohne h) mit einer guten Portion Zynismus an. Und sie alle haben irgendwie recht. Ich kann das so lapidar sagen, ohne dass mir ein Zacken aus der Krone fällt, denn im Grunde benutze ich all diese Argumente seit langer Zeit selbst. Und die harsche Kritik von Markus hat natürlich einen berechtigten Kern, denn 1) habe ich den Beitrag mehr aus der Emotion als der Ratio verfasst, und 2) ist er politisch höchst korrekt, was nicht mein vorrangiges Motiv für diesen Blog ist.

Versuchen wir also mal gemeinsam, uns der ganzen Thematik differenzierten zu nähern. Die Amerikaner haben aus ihrer Geschichte heraus ein gänzlich anderes Verhältnis zum Recht auf Selbstverteidigung und zu Schusswaffen. Dafür habe ich viel Verständnis. Im Grunde ist doch unsere deutsche Gesellschaft auch krank, wenn allein der Wunsch, sich bei einem Einbruch oder Raubüberfall selbst verteidigen zu können, als sonderbar (wahrscheinlich auch wieder rechtspopulistisch….gäääähhhnnn) betrachtet wird. Wenn der Deutsche überfallen wird, verhält er sich ruhig, wehrt sich nicht und hofft, dass alles schon nicht so schlimm werden möge. Alles rausgeben, demütig zu Boden gucken und hoffen, dass die Versicherung anschließend schon zahlt. Das ist der deutsche Weg. Anderswo auf der Welt würde niemand auf solche Gedanken kommen, geschweige denn so zu handeln. Und ja, auch ich hätte gern eine Waffe im Haus für den Fall, dass nachts jemand einbricht und meine Kinder, meine Frau oder mich bedroht. Im echten Notfall würde ich auch abdrücken.

In den USA kommt noch etwas anderes hinzu. Außerhalb der Ballungsgebiete sind die Entfernungen zum nächsten Sheriff’s Office oft sehr groß. Meine Facebook-Freundin Michaela, die in den Vereinigten Staaten, in Texas, lebt, schrieb, dass Waffen für sie Gebauchsgegenstände sind, die sie benötigen, um sich unangenehmes Getier wie Klapperschlangen vom Hals halten zu können. Und weiter: „Unser County (Landkreis) umfasst 4176 km² – ist also größer als das Saarland. Wir haben derzeit 50 Polizisten. Mehr brauchen wir nicht. Weil wir auf uns (und unsere Nachbarn) selber aufpassen. Unsere Autos und Häuser sind meist nicht abgeschlossen, manche lassen ihr Auto vor dem Einkaufszentrum einfach laufen, damit die Klimaanlage schön kühl bleibt. Wird mal irgendwo eingebrochen, redet die ganze Stadt darüber.“ Und auch Michaela hat recht, genau das ist das Amerika, das ich selbst kennengelernt habe und sehr mag. Also zur Klarstellung: Ich bin für Selbstverteidigung und ich achte auch das Recht, zu diesem Zweck eine Waffe besitzen zu dürfen. Ich würde es selbst in Anspruch nehmen, wäre es in unserem Land erlaubt.

Aber nun komme ich zu Präsident Obama und seiner gestrigen Trauerrede: „Diese Art von Gewalt passiert in anderen Ländern nicht. Nicht in dieser Häufigkeit. Ich musste solche Statements viel zu häufig abgeben.“ Hat er damit Unrecht? Jeder weiß doch, dass kaum eine Woche ohne Horrormeldungen aus den USA vergeht. Jugendgangs liefern sich Schießereien in den Ghettos der Millionenstädte, Kinder erschießen versehentlich ihre Geschwister, ein Dreijähriger hat vor einiger Zeit versehentlich seinen Vater erschossen, dessen Waffe auf dem Wohnzimmertisch lag. Polizisten erschießen Jugendliche, weil sie vermuten, dass die eine Waffe tragen. In High School-Shootings – passiert nicht jede Woche – laufen 18-Jährige in langen Ledermänteln mit automatischen Waffen durch die Klassen und ballern Lehrer und Mitschüler ab. Und jetzt traf es mal die Bibelstunde einer Kirche – neun Menschen sind tot. Täter war ein 21-Jähriger. Hätten Sie mit 18 oder 21 Jahren gewusst, wo und wie Sie sich in Deutschland eine Schusswaffe besorgen können? Ich nicht. Klar, wenn man beruflich im Schutzgeld- oder Drogengewerbe ist, dann wird es einfach sein. Aber wenn ich mit 18 schlecht gelaunt gewesen wäre und mir wäre die Idee gekommen, meinen Chemielehrer zu erschießen – es wäre schon daran gescheitert, dass ich in Deutschland eben nicht so einfach in ein Geschäft gehen kann und eine Uzi kaufen.

Hier setze ich mit meiner Kritik an. Ich will den Amerikanern weder ihre Waffen noch ihr Recht auf Selbstverteidigung nehmen (könnte ich auch gar nicht). Aber angesichts all der Toten kann man doch nicht zur Tagesordnung übergeben mit dem lässigen Hinweis, dass ja auch im Straßenverkehr viele Menschen sterben, ohne dass man Autos verbietet. Für Autos braucht man einen Führerschein, für eine Pistole nur genügend Dollars. Das ist ein entscheidender Unterschied. Wer sich selbst verteidigen will, braucht auch keine automatischen Waffen oder Handgranaten, es sei denn, irgendwelche Separatisten sind mit ihren Panzern auf Urlaubstour. Nach meiner bescheidenen Meinung sollten die Voraussetzungen für den Erwerb einer Waffe anspruchsvoller angesetzt werden. Es sollte überprüft werden, ob Waffen in Privathäusern vernünftig gelagert und vor dem Zugriff von Kindern sicher sind, so wie wir es ja auch in Deutschland vorschreiben. Was weiß ich, vielleicht gibt es auch noch bessere Ideen. Aber angesichts der vielen unschuldigen Opfer, der oftmals noch Minderjährigen, die an Schussverletzungen verrecken, geht eins jedenfalls nicht, und das ist die Haltung „Ein bisschen Schwund ist ja immer.“