Wir leben in seltsamen Zeiten. Da wird Cem Özdemir erneut zum Parteisprecher der Grünen gewählt und erhält 76,9 Prozent der Stimmen – was von den Medien weithin als großer persönlicher Erfolg gefeiert wird. Und da wird auch Horst Seehofer wieder zum Parteichef der CSU gewählt. Er erhält 87,2 Prozent der Stimmen, was die Medien landauf-landab für eine schwere persönliche Schlappe halten. Egal, die Maßstäbe, die man an die CSU anlegt, sind offenbar höher, und das ist gut so, denn die CSU ist seit Jahrzehnten eine ungewöhnlich erfolgreiche Partei.

Horst Seehofer hat einen ordentlichen Dämpfer erhalten, das sieht jeder, der rechnen kann. Und viele Kommentatoren hatten wohl beim Blick auf ihre verblichenden „refugeeswelcome-Schildchen an der Pinwand die Hoffnung, man könne Seehofers vergleichsweise schwaches Abschneiden damit erklären, dass er Bundeskanzlerin Merkel am Vortag frostig abgefertigt hatte. Die Rache der „Merkelianer“ sozusagen. Was für eine Fehleinschätzung! Wer sich nur ein wenig in der CSU auskennt, weiß, dass die Merkel-Freunde in der Flüchtlings-Debatte unter den CSUlern nur eine kleine Minderheit sind, in der Machtarithmetik bedeutungslos. Meine These nach ein wenig Recherche in der bayerischen Regierungspartei ist eine ganz andere. Ohne seine harte Gangart gegenüber Merkel vom Vortag hätte Seehofer eine deutlich heftigere Watschn der Delegierten kassiert.

Die Gründe sind schnell aufgezählt. Da ist zum einen, dass der Ministerpräsident in der Flüchtlingsfrage vollmundig gestartet ist, in der Berliner Regierungskoalition aber bisher kaum etwas Zählbares durchsetzen konnte. Die CSU-Basis erwartet vom bayerischen Löwen Zählbares im Ringen mit den beiden Partnern. Der zweite, wahrscheinlich wichtigere Grund ist innerbayerisch. Kronprinz Markus Söder hat sich im innerparteilichen Rennen um die Nachfolge Seehofers in den vergangenen Monaten deutlich an der Spitze absetzen können. Auch Oberbayern neigt inzwischen wohl mehrheitlich dem forschen Finanzminister zu. Zwar werden auch andere Namen genannt, aber Ilse Aigner zum Beispiel wird von vielen in der Partei zwar als ministrabel und sympathisch angesehen, nicht aber als auch nur annähernd so durchsetzungstark wie Söder. Der aber wird von Seehofer seit längerem immer wieder öffentlich gedemütigt, was seinen inzwischen zahlreichen Anhängern naturgemäß nicht gefällt. Dass sich das irgendwann auch in Stimmergebnissen bei Seehofer zeigen würde, ist logisch.

image_pdfimage_print

Dieser Artikel wurde 3 mal kommentiert

  1. T.Winter Antworten

    Danke Herr Kelle!
    Sie sind ein Lichtblick im linientreuen Blätterwald.
    Ich befürchtete schon,mit meiner Wahrnehmung würde etwas nicht stimmen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert