Zu Besuch in den blühenden Landschaften

Das erste Mal in Erfurt war ich Anfang 1990. Die DDR existierte noch, der Volkskammerwahlkampf war angelaufen. Zum ersten und letzten Mal waren die Bürger aufgerufen, ein wirklich freies DDR-Parlament zu wählen. Ich war als Journalist für einen Berliner Radiosender beauftragt worden, über die erste Wahlkundgebung der „Allianz für Deutschland“ mit Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem Erfurter Domplatz zu berichten. 150.000 Landleute Ost drängelten sich dort und in den Seitenstraßen, ein wahrhaftes Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen war zu sehen. Mein Eindruck von der Stadt war damals das typische Grau in Grau, das den real existierenden Sozialismus allerorten dokumentierte. Graue Häuser und überall der Geruch von Zweitakter-Kraftstoff, aber gleichzeitig eine mit Händen zu greifende Aufbruchsstimmung, wie ich sie niemals anderswo erlebt habe als in diesen Wochen und Monaten des gesellschaftlichen Umbruchs im Osten Deutschlands.
Ende vergangener Woche war ich wieder in Erfurt zu einem Vortrag. Die Stadt ist heute, ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung, gegenüber damals nicht wiederzuerkennen. Alles ist liebevoll restauriert, wunderbare Hausfassaden, eine Altstadt mit kleinen Gassen und einer überaus kreativen und lebendigen Kneipenszene. Auf den Straßen ist abends viel los. Thüringen geht es insgesamt gut. Es gibt einen florierenden Mittelstand, Handwerk hat hier goldenen Boden. Die Tourismus-Branche boomt, viele Menschen kommen nach Erfurt, Gotha, Eisenach und Weimar, zu bedeutenden Städten deutscher Geschichte. Das Bildungssystem in Thüringen ist eines der erfolgreichsten in Deutschland, wie jeder PISA-Test belegt.
Und nun haben die Thüringer einen Ministerpräsidenten namens Ramelow, der zwar aus dem Westen stammt, aber jener Versagerpartei aus der einstigen DDR angehört, die sich aufgehübscht und umbenannt hat, aber bis in alle Zeiten das Erbe der SED-Diktatur mit sich wird herumschleppen müssen. Bodo Ramelow ist smart, er kann’s gut mit den Medien. Und er sagt, dass er Christ sei, verzichtete aber bei seiner Vereidigung auf den Gottes-Zusatz, dieser Christ. Während der Fahrt habe ich viel darüber nachgedacht, warum Wähler bisweilen so irrational handeln, wie es zumindest eine Mehrheit in Thüringen getan hat. 75 Prozent aller Direktmandate im Lande hat die CDU errungen, bei den (entscheidenden ) Zweitstimmen sah es deutlich schlechter aus. Hat also eine Abwahl von Frau Lieberknecht stattgefunden? Vielleicht. Lag es auch an den linksgestrickten meinungsführenden Medien? Vielleicht auch. Aber es gibt viele Parteien, die man wählen kann, auch linke. Warum müssen es die Nachlassverwalter der DDR sein? Wenn es irgendwo in den jungen Bundesländern blühende Landschaften gibt, dann in Thüringen. Haben die Leute dort vergessen, wie es früher war? Haben sie sich so sehr daran gewöhnt, in einer freien und weitgehend wohlhabenden Gesellschaft zu leben, dass sie Experimente riskieren? Ich weiß es nicht. Jedenfalls werde ich solches Wahlverhalten nie begreifen.

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Dieser Artikel wurde 14 mal kommentiert

  1. kay kastning Antworten

    Angeblich ist die älteste Demokratie in Europa die der frühen Hellenen in Athen. Dort hat eine Militär-Junta in den 70ern die Macht übernommen, mit vielen Opfern von Verschleppten, Gefolterten etc.
    Der Mensch scheint sehr bequem zu sein, nur in Zeiten des abslouten Notstands erinnert er sich an ein vermeintliches „Allgemeinwohl“.
    Wie aus dem taxifahrenden „Ultra“ Joschka Fischer, der bei seiner Vereidigung in Hessen als Umweltminister in Turnschuhen erschien, später den Bundestagspräsidenten „ein Arschloch“ nannte, dann ein in 3.000 Euro-Anzügen mit Weste gewandete, ein Aussenminister dieser, unser, Republik werden konnte…
    Ja, es geht um Verführung. Wir denken zuviel mit unserem Bauch, und der ist genetisch 25 Millionen Jahre alt. Aber unser Verstand? Der sucht sich den Weg der Opportunität, leider. Es gibt zuwenig „Wissende“, und zuviele Altruisten. Das ist unser Schicksal, und es wird nicht „gut“ ausgehen, leider.
    Ich persönlich glaube nicht an die verklärte Figur des „Jesus Christus“, seine, wenn es denn seine sind, Thesen, die man weitläufig Gebote nennt, die unterschreibe ich.
    Aber: Ist das nicht nur ein Trick des Teufels, die Lämmer zu den Opferbänken zu führen?

  2. Norbert Schlöder Antworten

    Oft geschmäht, dennoch recht gehabt! Ich meine Helmut Kohl, dessen Wort von den zu erwartenden blühenden Landschaften im Osten absolut zutreffend gewesen ist. Ich war wenige Jahre nach der Wende in Erfurt und habe schon damals über die rege Restaurierungstätigkeit gestaunt; zur selben Zeit war ich in Schmalkalden – ein historisch nicht undedeutendes, schönes, aufgeräumtes Städtchen. Die DDR hat wohl doch nicht alles verkommen lassen, dachte ich; als ich bei den Bürgern nachftragte, bekam ich zur Antwort, dass
    die Renovierungen und Restaurierungen unmittelbar nach der Wende eingeleitet und vollendet wurden.
    Und was ist im Westen, insbesondere im jahrzehntelang von der SPD-regierten NRW geschehen? Die Ruhrgebietsstädte kennen die betrübliche Antwort sehr gut.

  3. Fritz - Ulrich Hein Antworten

    Mein lieber Scholli Herr Kelle, Sie werfen hier der Bevölkerung vor, dass sie Volksverrat begangen haben, indem sie nicht die CDU wählten – starker Tobak. Gerade Mitglieder der christlichen und auch der freiheitlichen Parteien haben im Osten einen starken Raubtierkapitalismus an den Tag gelegt. Man muss sich hierzu nur die Namen auf der Zunge zergehen lassen, denen die meisten Güter in MV oder Betriebe in anderen dortigen Ländern gehören und welcher Partei sie angehören. Dies wirft ein anderes Licht auf den Mut, die schwarze Partei nicht mehr zu wählen.

    • Uwe_aus_DO Antworten

      Sehr geehrter Herr Hein,

      nein. Herrn Kelles Vorwurf betrifft nicht die Nicht-Wahl der CDU, sondern zielt darauf, dass man von -zahlreich vorhandenen- links gerichteten Parteien sich ausgerechnet die ausgesucht hat, die direkt auf der SED nachgefolgt ist. Das ist die Partei, die für Todesstrafe, Mauer, Schießbefehl, Pressezensur und so weiter verantwortlich war. Auch mir ist das unbegreiflich, ich bin da voll und ganz auf Klaus Kelles Seite.

    • Klaus Kelle Antworten

      Lieber Herr Hein,

      ich schrieb: „Aber es gibt viele Parteien, die man wählen kann, auch linke. Warum müssen es die Nachlassverwalter der DDR sein?“ Das kann man beim besten Willen nicht als Kritik an der Nicht-Wahl der CDU verstehen. Wenn die Thüringer die CDU nicht mehr wollen, dann dürfen sie das, und ich habe das als Kommentator in Demut zu akzeptieren. Mich stört nur, wen sie sich neu auserkoren haben.

      • Christian Retschke Antworten

        aber, lieber Herr Kelle, Sie kritisieren doch den demokratischen Willensbildungsprozess.
        Nur weil die Landeshauptstadt schöne neue Fassaden hat, heißt das noch nicht, dass die CDU für Thüringen die bessere Wahl war.
        Schöne neue Fassaden gab es auch schon unter Potemkin und Tito.
        Vielleicht sollten Sie mal darüber nachdenken, ob die Thüringer vielleicht gelernt haben, hinter die Fassaden zu blicken und zu erkennen, dass es an Substanz fehlt.
        Warum ist die Bevölkerung in Thüringen seit 1990 um beinahe ein Fünftel zurückgegangen, ist die Geburtenrate seit Jahren fallend?
        Vielleicht, weil die Menschen Angst um ihre soziale Sicherheit haben. Und die kann ihnen die CDU nicht geben, besonders nicht, wenn die Ministerpräsidentin im Verdacht der Untreue steht. Zumindest wird mit Ramelow eine CDU-Tradition fortgeführt – die Aufhebung der Immunität des Landesregierungschefs.

        Schöne neue Welt.

        • Klaus Kelle Antworten

          Lieber Herr Reschke, es sind nicht nur die Fassaden. Nehmen Sie mal die Bildungspolitik und die Leistungsfähigkeit des Schulsystems nach PISA. Da hatten alle neuen Bundesländern die gleichen Startvoraussetzungen. Thüringen und Sachsen sind heute in der Spotzengruppe aller 16 Bundesländer, Brandenburg dümpelt irgendwo im unteren Drittel herum. Ich gehe nicht davon aus, dass das mit unterschiedlichen klimatischen Verhältnissen zu tun hat. Beste Grüße, KK

  4. Alexander Droste Antworten

    Naja, wenn „die LINKE“ nicht der Wolf im Schafspelz ist, dann würde ich sagen, lass se mal, wenn sie scheitern, dann werden sie halt wieder abgewählt. Es ist wohl nicht so, dass sie den Freistaat Thüringen zu einer neuen DDR machen.

    Als ich in Eisenach wohnte (2012), hat man schon eine linke Oberbürgermeisterin gewählt. Ich dachte, die Welt geht unter. War nur halb so schlimm. Eisenach blüht weiterhin auf.

    Ja, es stimmt. Thüringen ist ein ganz wunderschönes Land. Die Dörfer und Städte sind ursprünglich und malerisch im Gegensatz zu denen in NRW – finde ich. Neues wurde zumeist mit hohem Niveau erstellt. Für die hässlichen Plattenbauten hat man sich viel einfallen lassen. Allerdings sind die Nebenstraßen der Altstädte am verfallen, wie ich z.B. in Mühlhausen sehr deutlich wahrnehmen konnte. Das liegt an der Abwanderung und an der Demografie. In Altbauten muss investiert werden. Das Problem liegt auch in den Auflagen des Denkmalschutzes und in den Anforderungen an die thermischen Bauvorschriften von heute. Es traut sich keiner mehr an solche kostspieligen Sanierungen, wenn es niemanden gibt, der da einzieht und zu erwartenden hohen Mieten zahlt.

    Welche Antworten die Linke auf die Fragen der Zeit hat, wird sich dann zeigen.

  5. Veronika Hartung Antworten

    Ja, Herr Kelle, so ist der Mensch. Gutes wird schnell vergessen, aber das, was einmal versaut wurde (die Verramschung der ostdeutschen Industriebetriebe durch den Westen), das bleibt im Gedächtnis bis in alle Ewigkeit. Das müssen wir uns wohl gefallen lassen. Wenn der Thüringer nun wieder zu Althergebrachtem zurückkehrt, ist das schade. Aber man fühlt sich wahrscheinlich immer dazu gehörig, wo man herkommt. Auch das ist menschlich. Wir werden sehen, was dabei rauskommt.

    Wir haben uns jedensfalls gefreut, als die Mauer fiel. Nie hätte man es für möglich gehalten, dass wir das noch erleben durften. Wir haben uns auch gefreut, als Herr Kohl verkündete: Die Wiedervereinigung kostet uns keinen Pfennig. Recht hatte er, es waren auch keine Pfennige, es waren Millionen von Marken und jetzt Euro. Aber wir haben gezahlt und tun es noch – und wir freuen uns immer noch. Ist doch was Wunderschönes damit passiert – die blühenden Landschaften sind entstanden – zumindest äußerlich…
    Und auch wenn es uns keiner dankt – wir freuen uns daran, wenn wir die Kleinode im Osten besuchen.

  6. Dieter Krüll Antworten

    Sehr geehrter Herr Kelle,
    auch ich war 1990 in den grauen Städten Chemnitz (noch Karl Marx Stadt), Crimmitschau und Erfurt und musste der dort ansässigen Textilindustrie das Bilanzrichtliniengesetz erklären. Ich erlebte die hohe Motivation und den Stolz der dortigen Textiler, was Sie über Jahrzehnte in der Mangelwirtschaft der DDR geschaffen hatten.
    Glauben Sie mir, es ist mir unsäglich schwer gefallen, diesen Menschen zu sagen, dass Sie per 30.06.1990 die oft mit unsäglicher Liebe am Leben erhaltenen Maschinen schon zu diesem Stichtag als Schrott voll abschreiben sollten (zu diesem Zeitpunkt wurden die Verluste noch vom Staat übernommen), da sie spätestens am 31.12.1990 bei der ersten Bilanz nach den strengen westdeutschen Vorschriften diese Abschreibungen vor nehmen und die Verluste aus ihren Eigenkapital bezahlen mussten.
    Die Firmen hatten großen Vorrat an Baustoffen, die sie zwar nicht brauchten, die es aber irgendwann einmal gegeben hatten (sicher ist sicher), oder an hölzernen Spindeln und Webschiffchen, die in den modernen Maschinen keine Verwendung mehr finden. Quasi ein Museum.
    Der Kapitalismus, nein der Sozialismus, hat diese liebenswerten, nicht mehr marktgerechten Firmen (Museen) dahingerafft.
    Ich bin sicher, dass haben die (SED)-Linken inzwischen gelernt, dass dieses verfehlte Wirtschaftssystem am Weltmarkt keine Chance mehr hat. Ob andere Träume der SED bei der Linken ebenfalls ausgeträumt sind und die Demokratie, die ihnen in Thüringen zur Macht verholfen hat, verteidigt werden würde, wenn es mal hart auf hart käme, da habe ich leider große Zweifel und keinerlei Vertrauen. Bleiben wir wachsam.

    Dieter Krüll, Neus

  7. Berthold Lindenau Antworten

    Klar, es gab seinerzeit keine vorlage, wie so eine Einheit zu realisieren sei.
    Dennoch ist unbestreitbar, dass viele West-Firmen die Chance nutzten, für kleines Geld mögliche Wettbewerber platt zu machen. Ich erinnere nur an den ersten Kühlschrank ohne FCKW.

    Wundern wir uns also nicht, wenn dort so gewählt wird, wie gewählt wurde …

    Auch, wenn der Aufschrei unserer Gutmenschen in den Medien ausblieb, als sich die heutige Linke zum Nachfolger der SED erklärte. Man stelle sich nur mal vor, die CDU hätte sich zum Erben der NSDAP erklärt …

    So bleibt Geschichtsvergessenheit ein Teil der menschlichen Seele.

    • Uwe_aus_DO Antworten

      Die Bundesrepublik Deutschland wurde -gewollt- zum Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, und dies wird wahrscheinlich noch in der Generation unserer Enkelkinder erhebliche Folgekosten verursachen. Selbst die Griechen greifen aktuell zum Strohhalm Reparationszahlungen und Zwangsanleihe – und wer unterstützt sie dabei? Gregor Gysi.
      Wenn das alles so richtig sein soll, dann muss seine SED-PDS-Linke sich auch mit dem Erbe der DDR auseindersetzen – finanziell wie politisch. Und dann sollen sie erst einmal Schadenersatz zahlen, bevor sie regieren.

  8. Jürgen Backhaus Antworten

    Warum sollte der Wähler heute lernfähiger sein als früher? Man glaubt den Versicherungen der Parteien, bzw. deren Kandidaten. Wenn sich dann ein Herr Ramelow besser präsentiert als seine Gegenspieler wird er gewählt, was letztendlich hinter der Partei steckt interessiert den Wähler sehr wenig. Wir sehen doch selbst in NRW, das eine Partei die hier überwiegend regiert hat trotz allem Negativem immer wieder gewählt wird, obwohl viele Wahlversprechen nicht gehalten wurden (Frau Kraft ist ja so symphatisch!). Wir lassen uns weiter belügen von Parteien, denen es hauptsächlich darauf ankommt bei der kommenden Wahl wieder die meisten Stimmen zu holen.

  9. Olli P. Antworten

    Seit der Raubtierkapitalismus in Deutschland Einzug gehalten hat (im Gleichschritt mit der Globalisierung) wählen die Menschen vermehrt die Linken. Was ich zwar nicht verstehen kann. Die Zeiten sind aber wieder da, wo es heißt: Früher war alles besser. Und es wird immer schwerer, dies zu widerlegen, da eine gewisse Trägheit im Denken eingesetzt hat.

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