Weihnachten, Frühlingsanfang, Mai-Krawalle – wir haben uns daran gewöhnt

Der 1. Mai ist vorbei, alle haben überlebt. Das ist die gute Nachricht. In Berlin bewarfen Vermummte Polizeibeamte mit Böllern, Steinen und Flaschen. Ein Beamter wurde verletzt, es gab 15 Festnahmen. In Hamburg war es etwas munterer. Eine Demonstration wurde aufgelöst, 34 Verletzte, Festnahmen, während der Nacht „Scharmützel“, eine Tankstelle wurde angegriffen, die junge „Revolutionäre“ ausplündern wollten. Der 1. Mai, so waren Polizei und Politik in Berlin und Hamburg einig, war „weitgehend friedlich“. Nun habe ich von „friedlich“ ganz und gar andere Vorstellungen, aber im Grund haben all die Partei- und Polizeisprecher sogar recht. Im Vergleich mit den 90er Jahren, wo es allein in Berlin am 1. Mai auch mal 200 und mehr verletzte Polizisten gab, ist heute gar nichts mehr los. Ein bisschen Gewalt, ein paar Steine auf Polizisten, die Gesellschaft hat sich daran gewöhnt. Aufsehen und Empörung gibt es allenfalls noch, wenn am 1. Mai Rechtsradikale gewalttätig werden, so wie gestern in Weimar. Da flammt nochmal kurz Empörung der sogenannten Bürgergesellschaft auf, aber im Grunde hat man sich an die alljährliche ritualisierte Gewalt gewöhnt.
Ich hatte in meinen Berliner Jahren mehrfach das zweifelhafte Vergnügen, als Radioreporter den 1. Mai in Kreuzberg miterleben zu dürfen. Meine Kollegen und ich zogen alte Klamotten an, ließen Visitenkarten und anderes, das uns als Mitarbeiter eines nicht-revolutionären Senders identifizieren konnte, im Schreibtisch, und dann ging’s los. Bisweilen war es beängstigend, dieses Ritual. Der „schwarze Block“ mit Horden vermummter Gestalten, die dümmliches Zeug skandierten. Aber auch die Einsatzhundertschaften der Polizei in ihren bulligen Schutzanzügen, die beim Vorrücken mit ihren Knüppeln rhytmisch auf die Schilder schlugen und so eine durchaus martialische Erscheinung abgaben.
Ja, gestern war es nicht so schlimm wie früher mal. Das ist wahr. Was mich stört, ist die völlig unaufgeregte und desinteressierte Haltung unserer Gesellschaft zu den alljährlichen Vorgängen. Man konsumiert das, als gehört es zum normalen Jahreskreislauf. Weihnachten: Tannenbaum, März: Frühlingsanfang, 1. Mai: Krawalle. Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind die eingesetzten Polizisten. Allein in Berlin waren es gestern 6.000. Im Berliner „Tagesspiegel“ erschien dazu jetzt ein lesenwerter Beitrag, verfasst vom Sohn eines solchen Polizeibeamten. Er schreibt: „Am 2. Mai bewegten wir uns nur schleichend durch die Wohnung, bis mein Vater mittags aus dem Schlafzimmer kam. Handgroße blaue Flecken auf Beinen und Armen, Prellungen und Verstauchungen waren keine Seltenheit. In seinem Blick lag Erschöpfung, er hatte tiefe Augenringe.“
Interessiert es jemanden? Wohl nur wenige. Es ist 1. Mai, und die „Bullen“ sollen das regeln, damit wir in Ruhe grillen oder Radtouren veranstalten können. Und auf jeden Fall muss die Polizei deeskalieren, damit sich die neue SA auf den Straßen deutscher Großstädte nicht provoziert fühlt, zum Beispiel durch grimmigen Gesichtsausdruck eines Beamten oder die bloße Anwesenheit Uniformierter. Die Polizisten, die für uns alle die Knochen hinhalten, wie man das in meiner Heimat sagt, dürfen nicht nur keinen Dank der Gesellschaft erwarten, sondern nicht einmal Interesse. So, wie übrigens auch unsere Soldaten. Es ist schäbig.

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Dieser Artikel wurde 11 mal kommentiert

  1. Kämper Antworten

    Vielen Dank für Ihren Beitrag. Sie haben – mal wieder – den Nagel auf den Kopf getroffen. Polizisten haben in unserer Gesellschaft ebenso wenig eine Lobby wie Frauen, die freiwillig zu Hause bleiben, um für ihre Kinder da zu sein. Erstere müssen sich verhauen lassen und letztere werden als „Heimchen am Herd“ beschimpft.

  2. Alexander Droste Antworten

    Ach, Herr Kelle!
    Schäbig ist es doch, dass es Leute gibt, deren größtes Vergnügen es ist, Randale zu veranstalten. Die Ordnungshüter üben ihren Beruf aus. Blaue Flecken und Kampfspuren sind Berufsrisiko, so wie die Staublunge des Grubenarbeiters oder der Bandscheibenvorfall beim Steinsetzer. Jeder hält irgendwie seinen Kopf für irgendwas oder wen hin. Soll man jetzt einen Kniefall vor der Grundschullehrerin machen, die nach einem turbulenten Vormittag erschöpft und mit Ohrensausen in die nächste Bücherei geht und nach neuem Unterrichtsstoff Ausschau hält?
    Die Randalierer sind ein lästiges Übel. Es hat sie schon immer gegeben und es wird sie weiterhin geben. Und irgendetwas nehmen sie halt zum Anlass. Fußball, Ideologien oder 1. Mai. Ein kleines Dankeschön haben die Polizisten allemal verdient, so wie der Journalist, der einmal mehr darauf aufmerksam macht. Dank auch an die Soldaten, die den Kopf riskieren für die Fehler, die die Regierenden anzetteln. Dank an die Krankenschwestern und Altenpfleger, Kindergärtnerinnen und Hochschulprofessoren, deren Risiko zwar gering ist aber nicht unbedeutend. Dank, Dank, Dank …

  3. Susanne von Belino Antworten

    Etliche ventilieren ihr Aggressionspotenzial durch sportliche Aktivitäten, andere wiederum bauen dieses ab, indem sie randalieren. Auf irgendeine Art und Weise muss dieses Potenzial neutralisiert werden. Gewalttätige (kriegerische) Auseinandersetzungen waren und sind leider immer noch DAS Ventil für Aggressionsstau. Dieser Sachverhalt wird kaum einem von uns gefallen, er ist jedoch so alt wie die Menschheit selbst. Auf baldige Veränderung ist also nicht zu hoffen.

    Um nicht gänzlich zu verzweifeln, habe ich mir mit den Jahren meinen eigenen schwachen Trost gebastelt in der Überzeugung, dass die Ausübung bisweilen sehr „tougher“ – mitunter umweltschädigender neuer – Sportarten, aber auch wildeste Randale und Vandalismus unserer Gesellschaft, ihrem Eigentum sowie der Natur unseres Landes selbst auf lange Sicht weitaus weniger Schaden zufügen als dies ein „echtes“, grausam folgenreiches, Kriegsgeschehen täte. Vielleicht hegen manche – vermeintlich unbeteiligte – Mitbürger ja ähnliche Gedanken?

    Meine Hochachtung und mein Dank gilt allen Polizisten und Polizistinnen, die sich dieses Aggressionspotenzials erwehren müssen. Hut ab!

  4. Uwe_aus_DO Antworten

    „Frage nicht, was der Staat für Dich tun kann, sondern, was Du für den Staat tun kannst…“. Vom Geist dieses JFK-Zitat ist in unserer heutigen Gesellschaft nichts übrig geblieben. Man schreit nach dem Staat, wenn man Geld, Gesundheitsfürsorge, neue Strassen, einen Kindergartenplatz usw. haben möchte, man hat keine Lust, sich dem Staat dort, wo es nötig wäre, zu unterwerfen, schon gar nicht wenn es ums Steuern zahlen geht, aber auch Achtung vor Lehrern und Staatsorganen wie der Polizei ist minimiert.
    Aber woran liegt das?
    Eine umfassende Antwort habe ich auch nicht. Es wird ungeheuer viel Geld unnützt ausgegeben, aber dasa hat nun über Jahrzehnte niemand geändert. Den Lehrern könnte man sagen, „wenn ihr (wie seit den 70gern) Euren Schülern lehrt, alles in Frage zu stellen, dann wundert Euch nicht, wenn auch Eure Authorität dazu gehört“. Dem Staat könnte man sagen, vor allem seinen politischen Repräsentanten, „ihr habt Euch so weit von Euren Wählern entfernt, ihr bekommt zwar vielleicht noch einige Stimmen, aber keine Akzeptanz“. Eine Regel, wonach die Zahl der Parlamentsmandate auch von der Wahlbeteiligung abhängt, ist nicht durchsetzbar, kein Abgeordneter schafft seinen Arbeitsplatz selbst ab….
    So schwer es fällt: Wir finden keinen, der das für uns regelt. Wir müssen bei uns selbst anfangen. Und hoffen, dass mehr und mehr mitziehen. Dann kann man vielleicht auch wieder einmal mit echter Überzeugung sagen, „Ich wähle CDU“ (oder meinetwegen SPD, Grüne, FDP….), Hauptsache, da gibt es mal wieder ein Programm, das echte Ziele hat und eine Halbwertzeit, die über „Wahltag +1“ hinausgeht.

  5. Manfred Heins Antworten

    Treffender hätte man es nicht beschreiben können. Mir tun dir Kollegen leid die Woche für Woche ihren Kopf hinhalten müssen. Und für was? Schlagzeile in der Presse oder Video über Polizeigewalt!

  6. Felix Becker Antworten

    Ich sehe da einen Unterschied im Verhalten unserer Gesellschaft und auch unserer politischer Vertretung: Den Randalern schenkt man Achselzucken, überwiegend Desinteresse (ein klein wenig Autos und ein paar Schaufenster Unbeteiligter demolieren was solls) – den Polizisten schenkt man nur dann Interesse wenn sie zu „hart“, zu „eskalierend“ auftreten.
    Mich wundert das nicht, denn immerhin wurde einer, der Steine auf Polizisten warf zum Vizekanzler und Bundesaußenminister (war halt eine Jugendsünde)
    „befördert“!

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  8. Karin Dahl Antworten

    Lieber Herr Kelle, ich kann Ihnen nur mal wieder Recht geben. Diese Ausbreitung der Agression gg jeden und alles ist unerträglich herangewachsen mit Menschen, die keinen Respekt und keine Rücksichtnahme ggüb anderen Menschen, anderer Eigentum und dem der Öffentlichkeit mehr beigebracht bekommen. Das fängt zu Hause an!!! Dann geht es weiter bei Lehrern, die nichts mehr zu sagen haben oder nicht wollen und das schlimmste sind die Richter, die eher Polizisten anklagen als Rechtsverletzer und Kriminelle, die immer wieder laufen gelassen werden („der Täter ist der Polizei gut bekannt“! heißt es in den Mediendien lakonisch.) Heute steht ein ausführlicher Bericht in der RP über die Gewalt in Ämtern gg Politisten, gegen Krankenhaus- und Rettungspersonal. Es schüttelt einen, wenn man die Berichte der Betroffenen liest…. Einzige Maßnahme des Staates scheinen Deeskalationskurse, die nicht stattfinden aus Geldmangel und zT selbst bezahlt werden müssen !!!! Und meist nicht funktionierende Notknöpfe zu sein. Über die Möglichkeit gg die Täter vorzugehen, sie zu bestrafen und Leistungen zu entziehen wird offensichtlich nicht nachgedacht. …. Armes Deutschland! Dank an alle, die das als Betroffene aushalten müssen !

  9. Karin Dahl Antworten

    Sorry, hatte meinen Kommentar ohne Korrekturlesen aus Versehen abgeschickt…..

  10. Jürgen Backhaus Antworten

    Für solche Situationen sollte es eine Art mobiles Gericht geben, welches die Haupttäter auf der Stelle verurteilt, dann würden solche gewalttätigen Auseinandersetzungen sehr schnell reduziert. Leider hat das Rechtsbewusstsein in den letzten Jahren immer stärker nachgelassen, ein Phänomen das sich durch alle Gesellschaftsschichten zu ziehen scheint. Kein Respekt mehr vor anderen Menschen, egal ob in Uniform oder Zivil. Gestern lief im Fernsehen ein Bericht über Ladendiebstahl, bei dem gezeigt wurde das häufig auch Otto Normalverbraucher durch Tricksereien an der Ladenkasse, oder Umpacken von Waren die Geschäfte schädigt. Passanten, die zu diesem Thema befragt wurden äußerten sich gleichgültig dazu, fanden es nicht weiter schlimm. Ich vermute, das wir hierzulande ein Erziehungsproblem haben, Eltern kümmern sich immer weniger um den Nachwuchs, weil beide arbeiten (müssen) oder als allein erziehende überfordert sind.

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