Wer sind wir, wer wollen wir sein?
Als die Bundeskanzlerin jüngst auf die geäußerte Furcht vor einer zunehmenden Islamisierung unserer europäischen Gesellschaften mit dem lapidaren Hinweis antwortete, man solle der Entwicklung begegnen, indem wir uns unserer christlichen Traditionen wieder bewusster werden und die sonntäglichen Gottesdienste besuchen, erntete sie neben Zustimmung aus den Kirchen auch jede Menge Kritik. Zu recht, denn so einfach ist es eben nicht. Zu unseren freien Gesellschaften gehört nämlich zum Beispiel auch die Freiheit, nicht an einen Gott glauben zu müssen. Und auch diese Freiheit wird bedroht, wenn der missionarische Islam hierzulande an Boden gewinnt. Außerdem weicht Angela Merkel dem tatsächlichen Hintergrund der Frage aus, nämlich der Furcht vor einer politischen Religion, die ganzen Gesellschaften und Staaten ihre Regeln aufdrängt. Und nein, die Scharia ist ganz sicher nicht das Regelwerk, unter dem ich leben möchte. Ich denke, in dieser Frage bin ich mir mit der Mehrheit der Deutschen einig.
Aber die Aussage der Kanzlerin hat auch einen interessanten Aspekt, denn sie impliziert, dass wir alle aufgefordert sind, uns unserer historischen, geistigen und auch religiösen Wurzeln wieder bewusster zu werden, weil uns das Selbstvergewisserung und – wie ich überzeugt bin – auch Stärke gibt. Und so passt in diesen Kontext sehr gut das neue Buch des früheren Verfassungsrichters Udo di Fabio, das vorgestern der Öffentlichkeit präsentiert wurde. „Schwankender Westen“, so heißt es – und genau darum geht es in dieser Zeit. Di Fabios Grundthese in meinen einfachen Worten: Mit zunehmender Freiheit und Wohlstand haben wir in den reichen westlichen Ländern vergessen (verdrängt?), was uns zu freien und wohlhabenden Gesellschaften gemacht hat. Welche Kämpfe ausgefochten wurden, welche Opfer gebracht werden mussten, um dorthin zu kommen, wo wir heute sind. Der Autor formuliert das nicht als Vorwurf, sondern als Mahnung, sich unseren geistigen und historischen Wurzeln wieder anzunähern. Di Fabio ist kein Kritiker der westlichen Demokratien, im Gegenteil, er will sie erhalten und weiterentwickeln. Aber er weicht klaren Feststellungen nicht aus. Ein Europa ohne Grenzen sei eine schöne Vorstellung, wenn man es vom Standpunkt des Handels und des Tourismus betrachte. Aber in Zeiten, in denen Hunderttausende Menschen aus anderen Kulturen in den Schengen-Raum strömten, gäbe es nur zwei Möglichkeiten: entweder konsequente Sicherung der EU-Außengrenzen oder dauerhafte Aussetzung von Schengen und damit Wiedereinführung der Grenzsicherung der Einzelstaaten. Auf keinen Fall könne ein Zustand akzeptiert werden, in dem Flüchtlingsströme unregistriert durch die EU-Staaten ziehen, weil so die Funktionsfähigkeit der sozialen Rechtsstaaten gefährdet werde.
Wir müssen uns klar werden, was wir hier eigentlich erhalten wollen. Vielleicht schauen wir ein wenig herum, was es sonst so für gesellschaftliche Modelle auf der Welt gibt. Und dann erinnern wir uns, wie all das über viele Jahre entstanden ist: die Soziale Marktwirtschaft, die parlamentarische Demokratie, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die sozialen Sicherungssysteme und so weiter. Und wenn wir uns einig sind, dass all das verteidigenswert ist, dann muss unsere Politik die Voraussetzungen für den Erhalt all dessen schaffen. Und zwar konsequent. Das beginnt damit, dass man unmissverständlich erklärt, dass Deutschland nicht alle Probleme der Welt schultern kann, und dass auch nicht jeder, der unser Land erreicht, hierbleiben kann. Das geht dann weiter in den europäischen Zusammenhängen. Machen wir den EU-Institutionen klar, dass wir keine Bevormundung aus Brüssel brauchen, wie wir unser alltägliches Leben gestalten sollen. Europa soll für eine florierende wirtschaftliche Entwicklung, für ein gemeinsames internationales Handeln und für (auch militärische) Sicherheit sorgen. Welche Glühbirnen wir benutzen, ob wir homosexuelle Partnerschaften als „Ehe“ ansehen oder wie wir Familien fördern – dazu brauchen wir die EU nicht. Schauen wir mal wieder einen Moment auf uns selbst, auf unser Land und wer wir sind. das ist die Basis von der aus wir denken sollten. Was ist gut für uns, was erhält uns die Kraft, auch anderen helfen zu können. Ein solches Denken kann ich bei vielen politisch Verantwortlichen in Deutschland derzeit nicht erkennen.
Um all die Errungenschaften, von denen wir heute – beileibe nicht nur materiell – profitieren, angemessen zu schätzen sowie für den ehrlichen Wunsch, diese selbst um einen hohen Preis zu erhalten, braucht es vielleicht doch eine entsprechende Lebenserfahrung. Diese, gepaart mit der Erinnerung an beeindruckende Berichte, welche uns die Altvorderen zu ihren Lebzeiten übermittelt haben, machen uns sensibel und dankbar für das, was absolut nicht selbstverständlich ist. Dann erst entsteht wohl ein Bewusstsein für Werte und Errungenschaften, die es zu erhalten und zu schützen gilt.
Guten Tag, lieber Herr Kelle,
gerade die letzten drei Sätze Ihres Beitrags regen zum tiefen Nachdenken an und lassen Befürchtungen im Hinblick auf das Ergebnis der nächsten Bundestagswahl aufkommen. Denn Politiker, die die derzeitige Situation und deren Konsequenzen immer noch nicht begriffen haben, kann man doch nicht wählen!
Mit freundlichen Grüßen
Helmut Schliebs
Vielen Dank, Herr Kelle, für diese klaren Worte. Es ist genau die Diskussion, die wir heute führen müssen ohne irgendwen anzufeinden oder auszugrenzen. Sollte das für die einen oder anderen Konsequenzen haben, die mit Enttäuschung verbunden sind, dann werden Betroffene sicherlich damit leben können.
Zu diesem Thema, im Hinblick auf einen angestrebten Gottesstaat gewisser Gruppierungen, bin ich gestern auf einer langen Autofahrt auf folgenden Gedanke gekommen: Wie auch immer Gott zu definieren sei, er ist keine Person und auch kein Wesen im herkömmlichen Sinn, sondern er ist Sinn an sich und beinhaltet als Prinzip die Vielfalt im Entstehen und Vergehen. Damit gibt es eben nicht nur eine wahre Weltanschauung, sondern eine Vielfalt davon. Gerade unsere säkulare Gesellschaftsordnung garantiert die Vielfalt der Weltanschauungen, wobei ein jeder seinen eigenen Weg zu Gott suchen und finden kann. Ethik und Moral sind eigentlich religionsunabhängig universell. Und somit haben wir als säkularen und demokratischen Staat einen Gottesstaat, wie er besser nicht sein kann.
Dazu kommen unsere kulturellen Errungenschaften, die ja nicht mit der Wissenschaft und Technik von heute beginnt, sondern gespeist wird aus den Kulturen der letzten 5.000 Jahre von Sumer über Ägypten/Chaldäa, Hellas u. Rom, bis hin Humanismus und die verschiedenen Unterströme christlicher, jüdischer und islamischer Einflüsse. Sogar fernöstliche Philosophien fließen in unsere Wertewelt mit ein (Buddha, Konfuzius, Lao Tse, Dalai Lama). Kunst, Musik und Literatur sind unsere Identität und das Gedächtnis unserer Kultur, auf die wir stolz sein können. Wir haben für das, was wir heute sind, wie Sie trefflich ausdrücken, viel gelitten und gestritten. Das Volksgut haben wir in den vergangenen Jahrzehnten sträflich vernachlässigt und das macht uns schwach gegenüber dem, was uns jetzt bevorsteht. Ob dabei der häufigere Besuch des Gottesdienstes etwas nützt, sei dahin gestellt. Nur die Beschäftigung mit der Geschichte und mit dem Kulturgut der Vergangenheit bis heute bewahrt uns davor, von fremden Kulturen vereinnahmt zu werden.
Aber eines will ich noch ggf. als Utopist bekennen: Unsere Haltung gegenüber den Fremden als Verfolgte, und die Kraft, sofern wir es schaffen, diesen Strom zu leiten oder ggf. human um- oder zurückzulenken, macht uns Deutsche zu einer Nation der ethisch-moralischen Reife. Damit wären wir den vorgeblich elitären Nationen Amerika, Britannien und Frankreich gewiss voraus.
In diesem Sinne noch einmal Dank für den Anstoß einer sehr wichtigen Diskussion.
Ein sehr schöner Beitrag!
Ich drücke meine Gedanken ja immer gern mit kleinen Geschichten aus dem Alltag aus. Dieses Mal: Die Taxi-Fahrt.
Ich bin also mit dem Taxi unterwegs, müde und zufrieden nach zweitägiger beruflicher Reise. Taxi bremst ab, Taxifahrer: „Mist, wieso ist denn hier plötzlich eine Umleitung?“
Ich: „Weil hier an der Ecke jetzt ein Flüchtlingsheim gebaut wird.“
Taxifahrer: „Ja, aber dann könnte man doch mitteilen, dass hier jetzt `ne Umleitung ist.“
Wir kurven herum. Ich schweige. Eigentlich möchte ich jetzt gerne was sagen, aber ich bin eben müde und will nach Hause, und der Taxi-Fahrer wirkt optisch ziemlich rot-grün.
Taxifahrer: „Ich mache jetzt mal die Uhr aus. Sie können ja nichts dafür.“
Ich: „Nein, wirklich nicht.“
Wieder Schweigen.
Taxifahrer, herumkurvend: „Wissen Sie, was der Satz ist, den ich in den letzten Wochen von Fahrgästen am häufigsten gehört habe?“
Ich: „Nein.“
Taxifahrer: „Er beginnt mit den Worten: Also, ich bin ja nun wirklich nicht rechts, aber so allmählich…“
Ich lache. Das war mein heruntergeschluckter Einsatz gewesen.
Taxifahrer: „Wissen Sie, mein Chef ist Türke. Seit 30 Jahren in Deutschland. Der ist so deutsch mittlerweile, dass ich ihm gesagt habe: Chef, ich schenke Dir jetzt zu Weihnachten einen Pullunder. Jeder deutsche Mann hat einen Pullunder. Dir fehlt nur noch der Pullunder, dann bist Du ein richtiger deutscher Mann! Wissen Sie, was er gesagt hat?“
Ich: „Nein?“
Er: „Der erste große Fehler, den ihr Deutschen gemacht habt: Ihr habt uns hier Moscheen bauen lassen!“
Seitdem denke ich darüber nach. Ist es ein Fehler oder eine Errungenschaft? Ich bin mir nicht sicher.