Es ist immer eine Frage des Einzelfalls

Das Magazin „stern“ berichtete vor einigen Jahren über eine ältere Dame, die beim Runtertragen eines Müllbeutels auf der Treppe gestürzt und so unglücklich aufgeschlagen war, dass sie fortan vom Hals abwärts gelähmt blieb. Ihr Verstand funktionierte noch, den Kopf konnte sie bewegen – sonst nichts mehr. Danach wollte sie einfach nur noch sterben. Sie sagte, es gebe nichts mehr, was ihr Freude bereitet, nicht einmal die Besuche der Enkel. Jeder Tag, jede Minute ihres Lebens sei eine Qual. Sie flehte geradezu um Erlösung. Mich hat dieser Artikel – was beim „stern“ wirklich äußerst selten geschieht – tief bewegt. Es war einer dieser Momente, die heutzutage bei vielen, die immer alles ganz genau wissen, unmodern geworden sind. Eine menschliche Geschichte, die einen zum Überlegen zwingt, ob man vielleicht in einer wichtigen politischen Frage auf dem Holzweg ist.

Menschliches Leben sollte unantastbar sein – das ist zeitlebens meine Überzeugung gewesen. Da ich zudem auch noch von der Existenz Gottes überzeugt bin und die Lehre von Würde und uneingeschränktem Lebensrecht eines jeden Menschen wunderbar, ja geradezu revolutionär finde, bin ich Gegner von Euthanasie, Abtreibung, Angriffskriegen und Todesstrafe. Und dennoch sind es immer Einzelbeispiele, sind es menschliche Dramen und kaum vorstellbare Schicksalsschläge, die uns daran erinnern, dass es auch beim Lebensrecht nicht nur Schwarz und Weiß gibt. So lange man nicht selbst betroffen ist, lässt sich gut schwätzen. Da wird die reine Lehre vertreten, da wird alles abgebügelt, was der eigenen Meinung widerspricht. Aber wie sieht es aus, wenn man plötzlich selbst in eine Katastrophe hinein gerät?

Jeder Mensch darf in einer freien Gesellschaft selbst entscheiden, wie er oder sie leben möchte. Das bestreitet niemand, der halbwegs bei Verstand ist. Doch wie ist es mit dem Sterben? Selten wurde der Begriff „Selbstbestimmung“ derart inflationär gebraucht, wie gestern in Medien und sozialen Netzwerken und natürlich im Bundestag, wo unsere Abgeordneten übrigens mit Ernsthaftigkeit und Würde ein ethisch überaus heikles Thema diskutierten. Aber es reicht eben nicht, nur laut „Selbstbestimmung“ zu rufen. Ich bin erstaunt, wie viele Leute sogar sagen, die Politik soll sich aus dem Thema Sterbehilfe komplett raushalten und die Leute machen lassen, was sie wollen. Das wird dem Thema nicht gerecht. Natürlich, wenn jemand beschließt, vom Hochhaus-Dach zu springen, um dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, wird ihm herzlich egal sein, was der Gesetzgeber dazu meint. Doch was ist mit denen, die sterben wollen, es aber nicht allein bewerkstelligen können? Wer soll, wer darf ihnen helfen? Wollen wir eine Kommerzialisierung der Sterbeassistenz? Tötungsangebote in den Gelben Seiten des Telefonbuches? Oder wollen wir das ausschließen? Wollen wir wirklich die Ärzte von ihrem Eid, unbedingt Leben zu retten, entbinden und sie zu Dienstleistern für Leben und Sterben erklären? Was verändert das im Verhältnis zwischen Patienten und Ärzten im Alltag?

Was ist mit den Schwerstkranken, die nicht mehr selbst artikulieren können, was ihr Wille ist und auch keine Patientenverfügung haben? Wer entscheidet für diese armen Menschen? Ein Gericht, wohlmöglich nach Aktenlage? Eine Ärztekommission? Oder vielleicht der Familienrat der potentiell Erbberechtigten? Und wie sieht es mit neugeborenen Schwerstbehinderten aus? In einigen unserer westlichen Nachbarländer wird ernsthaft darüber diskutiert, ob man die nach der Geburt auch noch straffrei töten dürfen soll. In der DDR, über die wir in diesen Tagen ja viel gehört haben, war das übrigens häufig geübte Praxis. All diese und weitere Fragen müssen beantwortet werden, will man das Abgleiten in eine durch und durch inhumane Gesellschaft verhindern. Ich meine, wo endet das alles? Darf irgendwann jeder einen anderen Menschen ins Jenseits befördern, wenn der nur vorher sagt, er möchte das gern? Oder – wir leben in Deutschland – einen amtlichen Vordruck dazu ausgefüllt hat?

Ich bin immer noch gegen die Freigabe der Sterbeassistenz und für strafrechtliche Sanktionen, wenn sich Ärzte an einer solchen Handlung beteiligen. Zu groß sind aus meiner Sicht die Missbrauchs-Risiken. Und den Wert einer Gesellschaft sieht man in erster Linie daran, wie sie mit ihren Schwachen und Hilflosen umgeht. Wenn ungeplante Schwangerschaften, pflegebedürftige Familienangehörige und alte Menschen nur noch als Belastung und als Hindernis zur eigenen Selbstverwirklichung angesehen werden, läuft etwas gehörig schief im Land. Aber, und da schließt sich der Kreis, ich bin bisher nicht betroffen. Wer weiß, wie ich es sehen würde, wenn ich beim Müllruntertragen auf der Treppe stürzte und fortan vom Hals abwärts gelähmt wäre.

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Dieser Artikel wurde 10 mal kommentiert

  1. Ich und Du Antworten

    Uneingeschränktes Lebensrecht wird von vielen Politikern jeden Lagers mit der von ihnen kaltherzig befohlenen uneingeschränkten Lebenspflicht „verwechselt“… natürlich nur so lange sie nicht selbst betroffen sind

  2. Uwe_aus_DO Antworten

    Mölchte ich, wenn ich schwerkrank bin, selbst entscheiden können, ob es hier noch etwas zu tun gibt oder es Zeit ist, zu gehen? Meine Antwort ist ein eindeutiges ja. Möchte ich, dass irgend jemand am Tod verdient, sei es Renten- oder Pflegeversicherung, Ärzte oder gar Sterbehelfer? Oder dass ich unter sozialem Druck stehe, so frei nach dem Motto, „der hat jetzt genug Zeit, Geld und Nerven gekostet? Eindeutig nein. Und da liegt die Krux, und für diese Frage wird es keine direkte, wirklich sichere Lösung geben.
    Wenn es zutrifft, was ich gestern auf WDR2 hörte, dass nämlich Deutschland großen Nachholbedarf in der Palliativmedizin, beim Einsatz von Morphinen zur Schmerzstillung, hat, dann ist hier der Weg. Der, den wir zuerst gehen sollten, bevor wir versuchen, Gott zu spielen, Herren über Leben und Tod zu werden.

  3. Dieter Krüll Antworten

    Sehr geehrter Herr Kelle,
    fast bedrückt es mich, wenn ich Ihnen immer wieder voll und ganz zustimme. Aber Sie treffen sehr häufig meine Meinung und gerade beim Thema Sterbehilfe empfinde ich einen tragischen Zwiespalt meines Herzen.

    Ich glaube, die Verbotsregelungen müssen Bestand haben, damit jeder Missbrauchsfall, ggf. gerichtlich, überprüft wird. Nur so kann zwischen „echter, selbst bestimmter“ Sterbehilfe und leichtfertiger „Beseitigung“ eines leidenden Menschen unterschieden werden.
    Ich selbst habe nach einer Zeit tiefer Depression erst nach der Heilung meine erfolgreichste und glücklichste Zeit erleben dürfen. Wie schade, wenn ich damals wirklich meinem Bauchgefühl gefolgt wäre.

    Dieter Krüll, Neuss

  4. Helga Haverkamp Antworten

    Sehr geehrter Herr Kelle,

    es ist eine Gratwanderung, ich werde mich entscheiden wenn es soweit ist. Danke für das Foto.

    Helga Haverkamp

  5. Wilfried Heerstraß Antworten

    es geht um mein Leben und meinen Tod. Folgerichtig möchten ich die letzte Entscheidung selbst treffen. Ich befürworte das Model des ärztlich assistierten Suizids der Herren Hintze und Lauterbach.
    Mit freundlichen Grüßen
    Wilfried Heerstraß

  6. Verena von Buch Antworten

    Zu Zeiten des Hippokrates gab es keine künstliche Ernährung , keinen Herzschrittmacher, keine Organspenden. Menschen sollten in Würde sterben dürfen und nicht auf Teufel komm raus am Leben erhalten werden. Egal wieviel Chemotherapie ich bekomme, die Umwelt durch all die Gifte zerstört wird, sterben müssen wir alle. Also beste Palliativmedizn und gute Hospize und Menschen, die füreinander da sind.

  7. Alexander Droste Antworten

    Lieber Herr Kelle,

    wenn ich mal in eine solche Lage komme, in der Leben nur Qual ist, dann möchte ich auf eine Weltreise gehen. Es gibt Menschen überall auf der Welt, deren Leben nur eine Qual ist, selbst wenn sie gesund sind. Tüchtige Bauern in SO-Asien oder vermeintlich stramme junge Inuit nehmen sich das Leben, weil sie keine Zukunft mehr sehen. Die Motive sind sehr unterschiedlich. Unheilbare Krankheit und schwere Behinderung sind ebenfalls ohne Perspektive auf ein sorgenfreies Leben. Bei einer Weltreise habe ich die Hoffnung, dass ich entweder den Leidensgenossen noch einen Segen geben kann, auf dass sie wieder hoffen können, oder mich mag eine Mörsergranate treffen. Wäre das Ziel einer solchen Reise nicht wunderbar zur Zeit nach Syrien, Nordirak, oder deren Grenze auf Seiten der Türkei, Gaza, Nord Korea, Nigeria oder Sudan? Einerseits macht das Dahinsiechen ohne Perspektive keinen Sinn, dann wäre der Freitod sicherlich eine Lösung. Andererseits kann man ihm einen Sinn geben. Der Tod kommt dann schon früh genug.

  8. Pingback: Es ist immer eine Frage des Einzelfalls | FreieWelt.net

  9. Helmut Schliebs Antworten

    Sehr geehrter Herr Kelle,
    Ihr Artikel ist wieder einmal sehr zutreffend und ohne Schnörkel.
    Im Grunde Stimme ich unter den derzeitigen Umständen den Herren Hintze und Lauterbach zu. Die eindeutig akzeptablere Lösung wäre allerdings, die Palliativmedizin deutlich zu verbessern und mit mehr Geld auszustatten und die Zahl der Hospize bei hoher Qualität zu erhöhen; gerade zu den Hospizen findet sich ein Interview in der Franfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von heute (16. November 2014), welches mich sehr beeindruckt hat.
    Mit freundlichen Grüßen
    Helmut Schliebs

  10. Andreas A. Antworten

    Tja, also mir fällt dazu erst mal spontan nur Offenbarung 9; 6 ein.
    Weiß aber hier jetzt auch nicht, ob man damit so einen Einzelfall – und in dem bibeltextliche Zusammenhang – betrachten kann !?

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